Eine überraschende Erzählung
Ein früher, blöder Flugversuch - 1964
Sehr erstaunlich!
Ich habe eine Erzählung entdeckt, die ich zwar in meinem Buch Störfaktoren veröffentlicht hatte, die aber von dieser offenbar älteren Fassung etwas abweicht:
Ich muss wohl den Drang verspürt haben, diese Originalfassung sprachlich zu verändern, was ich von mir überhaupt nicht kenne! Beim Überarbeiten einer Geschichte hatte ich immer lediglich Fehler ausgemerzt oder hie und da auch mal ein Wort oder einen Halbsatz eingefügt oder auch entfernt.
Für mich ist es deshalb überaus interessant, diese beiden Versionen zu vergleichen. Vielleicht geht es Euch ebenso? Dann schaut auch mal auf die neuere Version, in einem neuen Fenster: HIER! Unter dem Titel "Eine unglückliche Turnstunde,1964".
Hier also dieser folgenschwere Vorfall im Original.
Schon in jungen Jahren, oder besser gesagt, in sehr jungen Jahren, begann ich, mich dem Sport zuzuwenden. Obwohl ich kaum glaube, dass tatsächlich ich es selbst war, sechsjähriger Knirps.
Meine Eltern waren, noch lange, bevor sie sich kennen lernten, schon in Sportvereinen in ihrer Heimat Sudetenland aktiv. Diese Gene müssen also später auf mich übergegangen sein, und sicher hatten auch die Erinnerungen meiner Eltern dazu beigetragen, mich schon recht früh der Leibesertüchtigung zuzuführen. Sie wählten einen Turnverein, dessen Sporthalle gleichzeitig die Halle meiner ersten Schule war: Einschulung 1963 in der Volksschule Mannheim-Waldhof, und schon kurz danach Mitglied des Turnvereins, im ersten Schulhalbjahr.
Während dieser Volksschulzeit stellte ich mich offenbar gar nicht schlecht an; unser Trainer führte mich schon früh an Aufgaben heran, die ich sogar mit Bravour meisterte: Ich erinnere mich gerne, wie er mir den Flic-Flac rückwärts beibrachte, im Alter von neun Jahren! Manno, wie war ich stolz darauf... Selbst an den Barren durfte ich gehen, obwohl der noch viel zu breit für mich war!
Nach dem vierten Schuljahr empfahlen die Lehrer, mich auf ein Gymnasium zu schicken; nicht wegen meiner sportlichen Begabung allerdings, wer weiß, warum sonst. Somit wechselte ich mit 10 Jahren in das Lessing-Gymnasium Mannheim, blieb aber im Turnverein im Gebäude der Volksschule (später Grundschule genannt).
Diese erste Klasse nannte sich Sexta (die Sechste, warum auch immer, obwohl ich ja von der Vierten aus wechselte), und die weiteren Klassen wurden rückwärts durchgezählt bis zur Oberprima, also der Ober-Ersten, der Abiturklasse. Damals war das die 13. Klasse, heute hat sie viele andere Namen.
In der zweiten Klasse des Gymnasiums, der Quinta (die fünfte) also begab es sich, dass ich blöderweise schon recht früh im Jahr – bezeichnenderweise am letzten Tag der Osterferien, statt gleich am ersten Tag – einen Blinddarmdurchbruch erlitt und deshalb einige Zeit ausfiel. Das wäre sicher noch zu verkraften gewesen: So schlecht war ich nämlich gar nicht in der Schule, außer in Latein. Ich hasste dieses Fach mitsamt Lehrer! Oder vielleicht andersrum: Ich hasste diesen Lehrer, und deshalb das Fach!
Glücklicherweise durfte ich meinen geerbten Bewegungsdrang im Turnverein austoben, was ich nach meiner Gesundung auch reichlich ausnutzte. Mein Trainer hielt so große Stücke auf mich, dass er mich sogar an die Ringe heranführte, was üblicherweise erst den mindestens 15-jährigen gestattet wurde.
Er hing mich also da hinein, und ich schaukelte einfach nur vor- und rückwärts, was mir rechten Spaß machte. Schon kurz danach wurde mir dieses Schaukeln zu langweilig, weshalb ich die Beine mit geschlossenen Füßen zum Schwungholen benutzte, ganz in professioneller Manier, wie ich glaubte. Jedoch erlahmten meine Hände recht schnell: sie waren noch zu klein für den Durchmesser dieser hölzernen Ringe, und außerdem waren die Unterarmmuskeln noch viel zu schwach. Also ließ ich mich auspendeln, und der Trainer hob mich wieder herunter, nicht ohne ein Lob!
In den nächsten vier Wochen trainierte ich wie wild: Ich muss mich einfach an diesen Ringen festhalten können, sackzement! Und es klappte auch immer besser.
Eine Trainingseinheit danach konnte ich es wagen, mich mit vehementen Schwüngen bis fast in die Waagrechte zu katapultieren, sowohl vorwärts als auch rückwärts; jedenfalls hatte ich dieses Gefühl, obwohl ich noch weit davon entfernt war. Aber es war unglaublich erhebend, oder besser er-schwebend! Immer weiter wollte ich hoch, immer mehr Schwung gewann ich -
bis die blöden, zu großen Ringe sich aus meinen kleinen Händen lösten.
Nur sehr kurz durfte ich das Gefühl des freien Falls erfahren, dann knallte ich rücklings auf die Matte! Das war ein weniger glückliches Gefühl, denn mir blieb kurz der Atem weg, den es aus den Lungen gepresst hatte. Aber okay, dafür waren solche Matten ja da: Abstürze solcher Art einfach wegzustecken, wenn auch mit einiger Heftigkeit, der Schwerkraft geschuldet. Aber im Prinzip harmlos, wie es schon viele Tausend Turner in der Vergangenheit erfahren konnten.
Nur ich nicht. Heute.
Mein linker Arm nämlich war nicht ganz dem übrigen Körper gefolgt, was eigentlich der Zusammengehörigkeit halber ein Muss sein sollte: Alle zusammen oder gar keiner!
Dieses linke Teil – man kann das durchaus in verschiedener Weise verstehen – knallte nämlich knapp außerhalb der Matte auf den blanken Boden.
Mein Kopf, nur leicht benommen, drehte sich nach links, sah einen Arm, der sich ab der Mitte nach außen bog; also ähnlich, wie man den Unterarm über seinen Nabel legt, nur andersrum, mit den Fingern gegen die Wand zeigend. Das erschien mir doch etwas seltsam. Aber bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, erschien mein alter, aber absolut fitter Trainer, mit einer Plötzlichkeit, als wäre er von irgendwoher abgefeuert worden. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, bog er meinen Arm wieder in seine angestammte Lage über dem Bauch; ich packte ihn mit meiner rechten Hand am Handgelenk und ließ ihn nicht wieder los.
Ob es geknirscht hatte bei der Rückbiegerei, weiß ich nicht mehr. Schmerzen hatte ich aber offenbar nicht, ich müsste mich wohl daran erinnern: Adrenalin und Cortisol fluteten sicher meinen Körper. Aber auch der Schmerz, der sicher da war beim Aufprall, entzieht sich gnädig meiner Erinnerung.
Der Trainer war völlig aufgelöst, ich dagegen recht ruhig; eine Eigenart, die ich auch später im Leben noch einige Male an mir bewunderte, wenn es äußerst heiß herging.
Ich meine, dass ein Krankenwagen gerufen werden sollte, aber weit und breit gab es kein Telefon, außer vielleicht im Schulsekretariat, aber das war ja geschlossen um diese Zeit. So erklärte ich in aller Ruhe, dass mein Unfallarzt nicht weit entfernt seine Praxis hatte, ich könne doch einfach dorthin zu Fuß gehen? Der Doktor kenne mich auch schon gut, er musste schon ein paar Mal an mich ran, wegen kleinerer Verletzungen, die ich mir zwar unregelmäßig, aber recht häufig zuzog; erst letztes Jahr, bei einem Schlüsselbeinbruch.
Es mutet seltsam an, dass der Trainer mich tatsächlich allein ziehen ließ. Aber vielleicht stand er mehr unter Schock als ich, denn er konnte die anderen drei Jungs in der Turnhalle nicht alleine lassen, und außerdem fürchtete er möglicherweise Konsequenzen wegen fehlender Aufsichtspflicht, denn er hatte mich alleine an den Ringen gelassen.
So trottete ich also los: barfuß, in schwarzer Turnhose und weißem, ärmellosen Unterhemd Marke *gerippt', stieg über einen niedrigen Zaun des Schulgeländes, um Weg zu sparen, ging etwa 200 Meter an der Schienenstraße (so heißt sie heute noch) auf der rechten Seite entlang, überquerte die recht breite Straße mit ihren zwei Straßenbahngleisen in der Mitte und stand dann in der offenen Tür des allein stehenden, alten, fast herrschaftlichen Hauses bei Dr. Kienapfel, seineszeichens Unfallarzt und gegenseitig (leider, aus meiner Sicht) schon recht bekannt.
Beim Röntgen sollte ich meinen Arm loslassen; aber keine Chance! Ich hielt ihn fest, wohl aus Angst, er könnte sonst abfallen. Danach stellte der Doc fest, dass er diesmal nichts für mich tun könne, ich müsse ins Krankenhaus! Die ältere Arzthelferin, die mich ebenfalls schon viele Jahre kannte, (sie war dabei, als ich im Alter von zwei Jahren beide Beine in Gips gelegt bekam, um meine X-Beine zu begradigen), rief meine Eltern an und ein Taxi. Oder umgekehrt? Ich entschied mich für das Theresien-Krankenhaus: Der Doktor fragte mich tatsächlich, wohin ich möchte, und mir war wohl irgendwie zu Ohren gekommen, dass dort das Essen besser sei als im Klinikum.
Auf dem OP-Tisch verlangte man doch tatsächlich von mir, dass ich endlich meinen Arm loslassen soll! Immer noch keine Chance; ich klammerte mich daran wie an mein Leben.
Und wieder durfte ich, wie schon bei der Blinddarm-OP, unter der Gasmaske von 10 rückwärts zählen, während mich der Äther in unglaublich angenehme Sphären entführte, aber viel zu schnell, so wunderbar war das. Ich meine, dass ich mich auch verzählt hatte, mich entschuldigte und deswegen wieder bei Zehn anfing und vielleicht bis Acht kam, obwohl ich am liebsten bis minus 30 weiter gemacht hätte!
Als ich aufwachte, staunte ich nicht schlecht. Ich hatte ja erwartet, dass meinen Arm ein Gips zieren würde, aber weit gefehlt! Ich lag auf dem Rücken, über mir eine Gestänge, in das mein Arm eingeschnallt war.
Knapp unterhalb des Ellbogens war eine kleine Stange getrieben worden, die mit einer Art Hufeisen versehen und damit – und mit verschiedenen Bändern – mit dem Gestänge verbunden war. In der Weise also, wie ich vorher meinen angewinkelten Arm vor dem Bauch festgehalten hatte, nur, dass er jetzt über meiner Brust hing. Nein, nicht hing: festgezurrt links und oben und rechts, damit ich den Arm ja nicht bewegen konnte! Ich staunte lange darüber, bis mir klar wurde: Hufi, das ist ein Folterinstrument, das du länger als drei Tage aushalten musst!
Mir wurde nicht alles genau erklärt; ein Knabe, der gerade angefangen hat Latein zu lernen, würde das eh nicht kapieren. Jedenfalls: Durch den Aufprall war der Ellbogen aus seiner rechtmäßigen Lage in die umgekehrte gezwungen worden; ich konnte das bestätigen. Durch den übermotivierten Versuch einer Aufsichtsperson, dies wieder zu korrigieren, (auch das konnte ich bestätigen), sei der Schaden (=Bruch) aber verschlimmert worden (=komplizierter Bruch). In spätestens vier Wochen aber würde ich befreit werden und mein Arm danach einen normalen Gips erhalten, und danach sei alles wieder in Ordnung.
Alles hörte sich gut an; es gab keinen Grund, skeptisch zu sein. Für so einen Knirps sowieso nicht, der den Ernst des Lebens eh noch nicht begreifen konnte. Außer den Lateinunterricht mit einem offensichtlich sadistischen Lehrer...
So lag ich denn ziemlich blöd und untätig herum, zumindest die erste Woche, aber mein Bewegungsdrang ließ mich schon unruhig werden. Ich probierte dann, als ich es nicht mehr aushielt, Turnübungen im Bett: Füße und Unterkörper hochziehen bis zur Querstange meines Foltergestänges, dort meine Zehen so biegen, dass der Körper so lange wie möglich hängen blieb, dann langsam absenken: trainiert die Bauchmuskeln. So was ist ernorm wichtig für einen, der mal ein richtiger Turner werden will!
Seitlich ging auch eine Menge: Körper fast raus aus dem Bett, in möglichst gestreckter Haltung; dann wieder langsam in die Mitte und raus auf die andere Seite. Das trainiert auch die seitlichen Muskelpartien, jawoll!
Mit einiger Übung schaffte ich es sogar, jeweils den rechten oder linken Fuß bis fast auf den Boden zu setzen. Wobei ich natürlich den Oberkörper heftig verbiegen musste, aber das Gefängnis in Form des Gestänges blieb dabei stabil; dachte ich.
Die vier oder fünf jungen Genossen im Zimmer feuerten micht oft an, lachten auch ebenso oft! Sie waren ja nicht gefesselt, sondern hatten andere Wehwehchen, was weiß ich für welche. Einer kam auf die Idee, Papierflieger zu falten, die sie mir zufliegen ließen, und ich warf sie mit dem rechten Arm zurück. Das Fenster, neben dem mein Bett stand, zierte etwas unschön bis zu halber Höhe ein Gitter, aus welchen Gründen auch immer, auch das zweite Fenster im Zimmer war derart gesichert. (Übrigens hatte ich dennoch einen schönen Blick auf den Neckar). Die Jungs zielten jetzt mit ihren Fliegern in eben dieses Gitter, und ich musste die Treffer, sofern sie hängen blieben, mit den Zehen wieder heraus ziehen und zurück werfen. Ja, ich meine das wörtlich: mit den Füßen! Das war ein tolles Training, und es hatte mordsmäßig viel Spaß gemacht.
Mordsmäßig war allerdings auch die Auswirkung auf das Gestänge, oder besser auf die Teile, die kein festes Gestänge waren, sondern aus Gazebändern bestanden und zum Beispiel die festgebunden Hand in der Waagerechten halten sollten. Das Hufeisen, das den Ellbogen mit der Stange darin hielt, war davon unbeeindruckt, weil auch dieses Hufeisen von einer senkrechten Stange am Gestell gehalten wurde. Der Rest jedoch begann sich langsam aufzulösen, infolge meiner übermäßigen Turnerei: Der Unterarm hing schon eine ganze Weile nicht mehr waagrecht, sondern die Hand zeigte immer mehr nach unten, und auch leicht nach Außen, wie mir schien. Ich kann mich nicht erinnern, während diesen vier Wochen einen Arzt gesehen zu haben, nur die behaubten Schwestern sind mir in Erinnerung, die mir ab und an einen Einlauf verpassten: Mein Sportprogramm ließ meinen Darm offensichtlich völlig unbeeindruckt.
Zwischendurch aber, so etwa am Ende der dritten Woche, wurde ich megamäßig überrascht (diesen Ausdruck hätte ich damals erfinden müssen): Meine gesamte Schulklasse stand vor der Tür zum Krankenzimmer zu Besuch! Keiner durfte rein, weil alle zu jung waren und ein mögliches Infektionsrisiko darstellten. Ein großes Hallo gab es aber nicht: Ich sah fast nur betretene Gesichter, die ungläubig oder auch mitfühlend den kleinen Kerl am Fenster in seinem Gestell begafften. An ein Winken und Lächeln kann ich mich aber erinnern: Oskar, mit dem ich schon früher Freundschaft geschlossen hatte; wir waren durch die vier Klassen in der damaligen Volksschule (Grundschule) gegangen.
Unser Klassenlehrer Dr. Helfinger überreichte mir eine Grußkarte, unterschrieben von allen Klassenkameraden und auch von ihm selbst: ------- HIER Bild -------- Wo???
An dieser Stelle muss ich einschieben, dass mir erst jetzt richtig bewusst wurde, dass ich ja tatsächlich nicht nur im Krankenhaus lag, sondern nebenbei auch Schüler einer höheren Schule war, wenn auch erst seit kurzer Zeit. Einem gewissenhafteren und intelligenterem Jungen wäre sicher die Notwendigkeit bewusst geworden, sich über die Fortschritte des Lehrpensums zu informieren, sich Unterlagen und Bücher bringen zu lassen – vor allem in Latein, wo ich sowieso schon hinterher hinkte. Aber nein! Turnen im Bett war mir wichtiger gewesen...
Die versprochenen vier Wochen waren inzwischen um, und mein Arm baumelte schon fast erbärmlich in den Haltetüchern, die schon langsam in Auflösung begriffen waren. Eine der Haubenschwestern bedauerte, dass es vielleicht noch zwei oder drei Tage dauern würde, gab aber keine Erklärung ab. So blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin meine privaten Turnstunden zu absolvieren.
Endlich! Ich wurde abgeholt, logischerweise samt Bett und Gestänge, und wieder durfte ich einen OP-Raum von Innen bewundern. Schade nur, dass keine Gasmaske auf mich wartete; dabei hatte ich mir fest vorgenommen, mich diesmal nicht zu verzählen, dieses Blamage wollte ich mir ersparen.
Die älteren Jungs - so kamen sie mir tatsächlich vor -, waren alle adrett gekleidet in weiß und grün, und sie hantierten an den Aufhängern meines Gestells herum. Ich fand das alles äußerst interessant! Die Weichteile wurden abgeschnitten, mein Unterarm sackte etwas ab; einer zwickte mit einem Bolzenschneider die dünne Stange durch, die durch meinen Arm getrieben war, und der gesamte Arm sackte ab, wurde aber noch ein wenig gehalten durch den Rest der Stange, der im Arm stecken blieb, mit dem Hufeisen darüber. "Warum hält denn keiner den Arm, verdammt!", erzürnte sich einer, wahrscheinlich der Chefingenieur. Ich war auch etwas erzürnt, denn es tat weh!
Wie schon angemerkt: äußerst interessant.
Schließlich schafften sie es, zu dritt, und mein lieber Arm lag auf meinem Bauch, in exakt der Position, wie meine rechte Hand ihn hielt, als ich das erste Mal in dieser oder einer ähnlichen Räumlichkeit auf dem Rücken lag, ebenso hilflos wie jetzt. Meine Schulter schmerzte von der ungewohnten Bewegung: fast fünf Wochen lang nach oben zeigend, und jetzt plötzlich wieder in normale Lage gezwungen! Hätte ich die Schulter nicht zwangsläufig in manche Richtungen bewegt während meiner Bettgymnastik, wäre es wohl schlimmer gewesen; auch daran hatte keiner gedacht, wie schon vorher beim Abknipsen der Knochenhaltestange. Anfänger, allesamt.
Man hievte mich auf eine grüne Pritsche und legte mir einen weißen Gipsverband an. Ich war erstaunt, wie dick der wurde, vor allem im Bereich des Ellbogens! Regelrecht monströs! Vielleicht ein Anfänger beim Gipsen?
Noch zwei Tage verbrachte ich im Krankenhaus, in denen ich lernte, diesen gewichtigen Brocken in einer Schlinge mit mir herum zu tragen, und auch, um überhaupt wieder richtig gehen zu lernen. Das war gar nicht einfach, mit diesen Kilos vor dem Bauch! (Im viel späteren Leben sollte ich mich an dieses Gefühl erinnern...)
Weitere zwei Wochen vergingen, bevor ich wieder in die Schule durfte, immer noch mit diesem Gips, der mit seiner Schlinge mein Genick reichlich belastete. Und täglich wurde ich an diese Krankenhauswochen erinnert: Aussteigen aus der Straßenbahn an der Friedrich-Ebert-Haltestelle, Vorbeigang am Krankenhaus mit Blick auf den dritten Stock, in dem ich hinter einem Fenster das Gitter zu erkennen glaubte, aus dem ich mit den Füßen die Papierflieger gezogen hatte... Ein Stück weiter die Schule, von wo ich mittags den gleichen Weg zurück gehen musste...
Mein lieber Unfallarzt erlöste mich bald von dem Gips, aber danach fingen Qualen an, die ich mir nicht vorgestellt hatte: Das Ellbogengelenk war vollkommen steif! Um es wieder geschmeidig zu bekommen, musste ich dreimal die Woche in der Praxis dieses wunderbaren alten Hauses: --- Foto machen! --- Der Arm wurde in einer Art Röhre mit Heizstrahlen fast gebraten, gut 10 Minuten lang, um Sehnen, Gewebe und das Gelenk insgesamt fit zu machen für die anschließende Tortur. Eine eigentlich nette junge Frau, nicht gerade unhübsch anzuschauen, offenbarte ihr wahres Wesen aber, indem sie sich mir gegenüber setzte und befahl, meinen Ellbogen auf eine Unterlage zu stellen, so, dass der Unterarm nach oben schaute. Dann zog sie ihn mit beiden ihrer Hände an meiner Hand zu sich hin. Was anfänglich hieß, dass sie keine Chance hatte, denn der Unterarm weigerte sich schlichtweg aufgrund seiner Steifheit, und ich mich wegen den Schmerzen... Dann drückte sie in die entgegengesetzte Richtung, zu meiner Schulter hin, mit gleichem Ergebnis, und danach wieder zurück.
Teufel noch eins, muss das sein? jammerte ich, von mir selbst überrascht, da ich doch vorher alles, aber auch alles so tapfer ertragen hatte. Diese Schmerzen aber waren mehr als heftig, da jetzt weder Adrenalin noch Cortisol zur Verfügung standen: mein Körper empfand diese Marter ja nicht als Bedrohung, nur mein Geist tat dies.
Ihre schönen Augen, teuflisch rot, bohrten sich in meine, und eine heisere, tiefe Stimme mit einem infernalischen Nachhall bohrte sich auf ähnliche Art in meine Ohren: Das werden wir ab jetzt dreimal die Woche machen, hähä! So lange, bis die Bewegungen deines linken Armes wieder wie die des rechten sind! Hähä!
Wenn ich es recht bedenke, hatte sich mein Gelenk tatsächlich um einen Millimeter bewegt. Wenn sie es wirklich schaffen sollte, dann heirate ich sie, nahm ich mir vor, mitsamt den rehbraunen, gütigen Augen und der einschmeichelnden Stimme. Und den zärtlichen Händen.
Lange vier Wochen dauerte es, wobei ich allerdings zugeben muss, dass ich während dieser Zeit nicht untätig war: Die Aussicht, mit einem – zumindest halbsteifen – Arm durchs Leben zu turnen, erfüllte mich mit Schrecken. Ich hing mich überall hin, wo es nur ging, beispielsweise an einen Ast meines Lieblingsbaumes im nahen Wald, oder auch an die obere Einfassung der Türrahmen der elterlichen Wohnung; da brauchte ich nicht so weit zu laufen.
Es half aber alles nichts, oder jedenfalls nur bis zu einem gewissen Grad: Der Arm wurde zwar wieder recht beweglich, blieb aber schief und krumm. (s. unten Bild Arm 1966) .
Diese drei Ereignisse – Blinddarm und Armbruch und mangelndes Interesse an der schulischen Bildung – verführten meinen Freund Oskar dazu, sich in seiner altklugen Art (wir nannten ihn oft Vadder) an meine Eltern zu wenden: "Der Norbert hat so viel versäumt, es wird wohl besser sein, wenn er die Klasse wiederholt!" So war es denn auch. Und als ein richtiger Freund begleitete er mich dabei...
Trotz diesem Arm turnte ich sogar weiter! Allerdings nur in der Schule, für den Turmverein war ich verloren. Aber auch in der Schule war es nach über enem Jahr vorbei: Nach einem Turnfest in der Carl-Diem-Halle in Mannheim meinte unser Sportlehrer "Fips" Rohr gnadenlos: "Deine Leistung ist außergewöhnlich gut; aber deine Haltung..." Klassenkamerad Jürgen, der meine Stelle einnahm, fühlte mit mir, weil er meine Leidenschaft kannte: "Es tut mir leid für dich, Norbert!" Große Worte aus einem jungen Mund; schon damals war ich davon beeindruckt.
Sicher hatte Fips recht: Wie sieht es denn aus, wenn zwei unterschiedliche Arme an einer einzigen Reckstange hängen? Am Barren oder beim Bodenturnen gab ich sicher auch keinen ästhetischeren Anblick ab.
Sicher aber auch: es war ein Schock.
Ich überwand ihn aber bald, ich war ja noch jung und offen für künftiges Leben; also wand ich mich anderen Sportarten zu; Laufen über anfänglich 50, dann 75, 100, 200 und zuletzt 400 Meter; Fußball und Handball betrieb ich ein paar Jahre sogar gleichzeitig! Ich war süchtig.
15 Jahre nach diesem saublöden Abgang von den Ringen befreite mich mein Unfalldoc wieder einmal von einem Gips – es war wohl fünfte oder der sechste -, diesmal vom rechten Sprunggelenk, nach einem Motorradunfall.
"Wie kommst du jetzt nach Hause?" "Nun, mit Gips und Motorrad bin ich hergekommen, ohne Gips und mit Motorrad gehe ich wieder..." Der Doc und die alte Helferin klatschten sich mit der flachen Hand auf die Stirn, nicht ohne dabei ein heftiges Lachen zu unterdrücken. So kannten sie mich! Ich gehörte ja schon fast zur Praxis, mit meinen Hundert Besuchen in 20 Jahren; Prellungen, Verstauchungen, Schnittwunden, Blutergüsse, Brüche füllten einen dicken Aktenordner.
Eine Frage wird mir immer in Erinnerung bleiben, gestellt bei jedem Auftauchen: "Was hast du jetzt schon wieder, und wie ist es passiert?" Und danach die Gesten ungläubigen Kopfschüttelns! Denn alles, was mir passiert war, passierte normalen Menschen nicht unter derartig skurrilen Begleitumständen. Oder auch gar nicht.
Nachwort: Im Jahr 2017 wurde ich wegen eines Tennisarms operiert, wie ein Jahr zuvor am rechten Ellbogen. Nur gestaltete sich diese OP etwas schwieriger. Da es nur eine OP mit partizieller Narkose war, bekam ich mit, wie mein Doc schimpfte: 'Wo ist denn nur diese Sehne?' - 'Doc, ich sagte doch schon: da drin ist alles verschoben!' - Eine Weile später: 'Ah, da ist sie ja! Dort hätte ich sie nicht vermutet...'
1966, mit dem Hubschrauberpilotenhelm meines Cousins, der uns mal kurz aus seinem Standort Nürnberg besuchte; er landete in der Benjamin-Franklin-Village, etwa drei Kilometer entfernt, in Mannheim-Käfertal.
Den Arm konnte ich nicht mehr ganz durchdrücken, und die hässliche Biegung ist deutlich zu sehen.