Ein Sattel ohne richtige Funktion

Der September hatte gerade begonnen am Fünften dieses Monats, die Zeit übermäßiger, drückender Hitze hatte sich gemildert zu weniger drückender Hitze, einige Regentropfen schauten bei uns vorbei, und ein paar davon landeten sogar auf der ausgedörrten Erde, wo sie nutzlos verdampften.

Diese herrliche Zeit nutzte ich, um mit meinem elektrischen Drahtesel, kurz eRad, durch die Gegend zu gondeln. Zu diesem Begriff muss ich dringend erwähnen, dass ich kurz vorher, Ende August, zu Besuch bei meiner liebsten Kusine im herrlichen Altmühtal war. Dies ist natürlich kein Grund, ein EBike umzutaufen; der eine Grund war das Angebot der Bahn mit ihrem 9 Euro-Ticket, der andere, dass wir uns über die übermäßigen Anglizismen in der deutschen Sprache aufregten, egal, wie wir auf dieses Thema kamen. Also heißt mein EBike  jetzt eRad. Basta. Hm; konsequenterweise müsste ich den Ausdruck  Anglizismen auch durch ein deutsches Wort ersetzen; aber erstens fällt mir auf die Husche keines ein, und außerdem: Ganz ohne fremdgewandete Worte scheint die deutsche Sprache doch nicht auszukommen. Echt blöd.

Nun denn: Ich fuhr also so vor mich hin, als ich plötzlich das Gefühl hatte, auf meinem eRad kleiner geworden zu sein! Genau betrachtet, war nicht ich das, sondern mein Sattel! Und noch genauer betrachtet, war es auch nicht der Sattel! Wie hätte ein einfacher Sattel das auch zustande bringen sollen? Aber in der Tat: Ich saß plötzlich niedriger.

Mein fachmännisches Auge erfasste sofort nach dem Absteigen – das mir aus dieser niedrigen Höhe ungewohnt schwer fiel, trotz – oder weil? - tief gelegen Damenrahmen  - , dass etwas nicht stimmte. Gewiss hätte das auch ein weniger gewiefter Mensch erkannt, aber ich bin halt ein ausgebuffter Fuchs und stellte sofort fest, dass ich gleich heulen würde..:. Ist es denn möglich, dass irgend jemandem außer mir so etwas passieren kann?

Die kurze Sattelstange war ursprünglich mit einem Gewinde zu einer längeren Stange verschraubt, die eine Feder enthält. Im Volksmund nennt sich so etwas Sattelfederung, jedenfalls dann, wenn der Volksmund weiß, was das ist. Ich wusste es. Aber ich wusste bis dato nicht, dass eine solche Gewinde-Zusammengehörigkeit sich lösen konnte, aus welchen Gründen auch immer.

Der Effekt war jedenfalls nicht nur, dass ich vom Sattel ab an Höhe verloren hatte, sondern auch die damit verbundene, hochgeschätzte Federung! Sie war nämlich in das Rahmenrohr gerutscht, das eigentlich für die Befestigung dieser Sattelstütze verantwortlich ist. Sehr ungeschickt dabei war, dass die Stahlfeder in einem Rohr platziert war, dieses aber mitsamt dieser Feder in den Stahlrohrrahmen des Rades abgerutscht war, in fast unermessliche Tiefen...

Der abgebrühte Fuchs in mir, der ja schon Vielerlei Blödsinn erlebt hatte, schaute nur äußerst dämlich auf dieses Kunststück, das mein Sattel und seine Halterung hier vorgeführt hatten.

Ja, isses denn wahr? Klar, meinte mein geistig-seelischer Zwilling in seiner ironischen Art: Haben wir nicht schon genug Dinge erlebt, die aus dem Rahmen fallen? Und jetzt fällt sogar etwas IN einen Rahmen! Ist das nicht köstlich? Ein Novum! Ich fühlte und sah seine Heiterkeit, wie er sich vor Lachen kugelte, der Depp.

Mein normales Ich aber war nur völlig sprachlos. Aber insgeheim dachte ich tatsächlich: So etwas kann doch wirklich nur dir passieren!

In den nächsten Tagen probierte ich einiges aus, was mir so in den Sinn kam, um diese vermaledeite  Tiefenstange aus dem Rohr zu holen; ich erspare euch Einzelheiten. Auch holte ich Tipps von Bekannten ein, aber auch die waren nicht erfolgreich. Als ich das Rad auf den Kopf stellte und mit einem Gummihammer gegen den Rahmen schlug, fiel immerhin die Stahlfeder heraus, was mir aber in keiner Weise etwas nützte.

Schließlich fuhr ich zu einem Fachgeschäft, das von Außen überhaupt nicht diesen Eindruck vermittelte: Kein Firmenschild draußen, und drinnen eher eine große Garage, vollgestopft mit Fahrrädern und Teilen! Kein Tresen, und ein Weg war auch nirgendwo zu erkennen. Dieses Tohuwabohu erschien mir aber irgendwie sympathisch, und der ältere, beleibt-gesetzte, sehr ruhige Besitzer ebenso. Er sah sich mein Dilemma an und verbrachte sicher eine dreiviertel Stunde mit murmelnden Selbstvorschlägen und allerlei seltsamen Werkzeug an diesem versenkten Rohrstück im Rohr des Rahmens. Zwischendurch ging er zwei Häuser weiter in sein Lager und suchte dort etwas, während ich drei Häuser weiter in einem Penny-Markt ein paar Geflügel-Käse-Würstchen gegen das Grollen in meinem Magen erstand.

Schließlich gestand er, dass wohl nicht anderes helfen würde als der Versuch, von unten heranzukommen: Die Tretlager der Pedale ausbauen und mit einer biegsamen, aber doch widerstandsfähigen, dünnen Metallstange das Sattelrohr irgendwie nach unten zu schieben, während das Rad auf dem Kopf steht, bis das blöde Ding herausfällt. Aber heute leider nicht mehr, es ist Freitag und gleich Feierabend.

Mir kam die Idee, dass man es vielleicht mit einem Gewindeschneider versuchen könnte? Man bräuchte ja nur etwa zwei oder drei Windungen, und dann könnte man das Rohr herausziehen. „Gute Idee!“, meinte er, „aber Haben!“ Na ja, warum sollte ein Profitüftler so was auch haben müssen; für Fahrradreparaturen ist das eher selten zu gebrauchen. Ich solle doch mal einen Schlosser fragen! Aber wo gibt es heute noch eine echte Schlosserei?

Der nette Mensch verlangte nichts für seine Mühen, aber ich steckte ihm einen Fünfer in die Tasche seines Blaumanns.

Zum Schluss wollte ich noch wissen, ob ihm so etwas schon mal untergekommen sei? „In 35 Jahren nicht!“

Da haben wir's: So was kann doch wirklich nur mir passieren.

Auf dem Rückweg geriet ich in einen Wolkenbruch. Natürlich auf einer Strecke, auf der es keinen Unterstand gab. Seit über drei Monaten hat es nicht mehr geregnet! Muss ich dazu noch etwas sagen?

Nun werde ich also versuchen, eine Schlosserei zu finden, oder vielleicht eine Autowerkstatt, die einen Gewindeschneider ihr eigen nennt, und dann hoffentlich auch in der richtigen Größe. Die Fahrerei mit diesem Sattel ist nämlich nicht gerade die angenehmste Art der Radlerei, ich will versuchen, es zu beschreiben:

Allein schon das Schieben ist seltsam, wenn man gewohnt ist, dabei die rechte Hand am Sattel zu haben: dieser nämlich dreht sich bei der kleinsten Berührung einfach weg, er hat ja keinen Halt mehr, ohne die Sattelstange! Das dünne Teil unter dem Sattel steckt ja in dieser Sattelstange, die von Rechts wegen im Rahmenrohr fest fixiert wird und die jetzt unglücklicherweise zwar noch vorhanden, aber unerreichbar ist. Und schieben musst du oft genug: Vom Hof durch den Hausgang auf die Straße, in eine Parklücke vor dem Supermarkt …

Eine Eigenart, den Haus- oder Fahrradschlüssel aus Hosen- oder Jackentasche zu ziehen, musste ich auch aufgeben: Ich lehnte dabei das Rad immer mit dem Sattel an die Hüfte (es ist ja ein Damenfahrrad und deshalb keine Mittelstange vorhanden). Da aber vom Sattel her kein Widerstand mehr da war und er sich einfach wegdrehte, rutschte das Rad einfach an meiner Hüfte vorbei nach unten... Einfach lächerlich.

Nun kommt das Abfahren: Du trittst auf ein Pedal und willst aufsteigen, wie es viele Millionen Radfahrer tun. Du aber kommst dabei mit dem Oberschenkel kurz an den Sattel, der sich natürlich wegdreht! Es ist eine akrobatische Übung, mit Schenkel und Hintern den Sattel wieder so auszurichten, dass er passt. Inzwischen kannst du nicht treten, sodass der Elektromotor ausgeht und du zum Stillstand kommst! Also: Noch einmal von vorne. Inzwischen habe ich eine Technik entwickelt, die mit Sicherheit einen Zuschauer zum Lachen reizt, mir aber vollauf zupass kommt. Man gewöhnt sich an alles, wie auch an die seit Monaten nicht funktionierende Gangschaltung, die ich schon gar nicht mehr vermisse... Dieses Drama habe ich am Ende des letzten Buches beschrieben.

Das Fahren an sich ist auch etwas gewöhnungsbedürftig: Ich sitze quasi im Erdgeschoss, die Sattelhöhe ist um fast zehn Zentimeter abgerutscht. Deswegen ist der Lenker logischerweise um zehn Zentimeter höher: Easy Rider lässt grüßen! Du weißt auf Grund deiner Jugend nicht, was Easy Rider oder ein Chopper ist? Na, dann schau hier:

Nun, so ganz unbequem ist die momentane Haltung auf meinem eRadl nicht, das Bild vermittelt übertrieben meine Situation: Die ist nämlich eher entspannt, weil die Hand- und Armgelenke kaum beansprucht werden: das hat schon was für sich, weil sie fast waagrecht nach vorne zeigen. Und auch das lädierte Genick hat was davon, weil mein kluges Köpfchen (lacht da jemand?!) fast exakt gerade nach vorne schaut. Nur der Hintern kriegt oft Probleme: Die Sattelfeder liegt ja in meinem Keller, wo sie so unnütz ist wie vieles andere Zeug, das dort herumliegt. Und da die Straßen in unserer Gegend eher selten den glatten Asphalt einer Motorradrennstrecke aufweisen, gibt dieser magere Hintern die Schläge weiter, an die geschädigten Bandscheiben knapp darüber, bis hin nach ganz oben, zum vorher genannten Genick, das auch nicht mehr das jüngste ist. Bei der Hatz über quer laufende Straßenbahnschienen wackelt mir doch glatt die Brille bedenklich!

Zusätzlich nervt natürlich der Sattel, der ungehemmt der vorgesehenen Fixierung wackelt wie ein Kuhschwanz unter meinem Allerwertesten: Bei jeder Bewegung der Beine schwingt das dumme Ding hin und her, weil ja die Beine diese Bewegungen an das gemeinsame Ding darüber weitergeben. Aber auch hier haben mein findiger Geist und mein (manchmal) anpassungsfähiger Körper eine Lösung gefunden: Es sieht sicherlich genau so blöd aus wie das anfängliche Auf- und Absteigen, aber es wirkt! Man gewöhnt sich an alles... Auch das An- und Abfahren habe ich inzwischen völlig im Griff, ich kann mir kaum noch vorstellen, wie das auf einem normalen Fahrrad mit perfektem Sattel all die vielen Jahre so problemlos und normal funktionierte.

Nur selten noch, wie heute nach der Einkaufsfahrt, merke ich, dass ich doch noch nicht alles verinnerlicht habe: Das Rad rutschte an meinem Oberschenkel entlang, als ich den Hausschlüssel aus der Jackentasche ziehen wollte... Ich habe diese Peinlichkeit schon oben beschrieben. Ein Nachbar von zwei Häusern weiter schaute neugierig her, aber ich tat, als wenn das völlig normal und in Ordnung ist! Was im Prinzip ja auch stimmt. Jedenfalls momentan.

Ob ich das alles wieder in die Reihe kriege? Inklusive der Gangschaltung? Und wenn ja: Wie groß wird die Umstellung sein, ein ganz normales Fahrrad bewegen zu müssen?

Dieser Gedanke ist aber leider in weite Ferne gerückt.

Ich hatte tagelang, sofern es das Mistwetter erlaubte, einige Orte besucht, die hilfreich erschienen.

Bitte verzeiht den Ausdruck „Mistwetter“! Glücklicherweise hatte es oft geregnet, und die Natur dankte es mit dem Sprießen der vertrockneten Wiesen, Vorgärten und überhaupt allerorts! Ein Segen! Jedoch nicht für einen Radler, der mit seinem wackligen Sattel unterwegs ist; nicht mal für einen Radler, der gar nicht weiß, wie glücklich er sich schätzen darf, ruhig und in angenehmer Höhe auf seinem Radl zu sitzen.

Ich bemühte mich zu einer recht großen, bekannten Autowerkstatt, wo ich aber gleich am Empfang abgewiesen wurde, als ich mein Problem schilderte: „Haben wir nicht, keine Idee, machtlos! Schönen Tag noch!“ Beim Hinausgehen hinterließ ich einen Furz, direkt an der Empfangstheke.

Einen oder auch drei Tage später entdeckte ich eine Schlosserwerkstatt, wie mir ja der nette Herr von der chaotischen Radreparaturwerkstatt nahegelegt hatte, eine solche zu suchen:  Ein älterer Herr und zwei jüngere Gesellen mühten sich ebenso wie der Radmann vor über einer Woche (oder waren es schon zwei oder drei Wochen?). Plötzlich aber hielten sie inne: „Geht nix mehr jetzt, Mittagspause! Kommst du gucken später! Wir Lösung finden!“

Die Lösung später bestand darin, dass ich dem Chef mein Problem vortragen durfte. Der guckte dreimal in das Rohr, als könne er das versunkene Teil magnetisch mit seinem Auge an die Oberfläche ziehen und meint dann lapidar, „Geht nicht, keine Idee, machtlos!“ Diesmal hinterließ ich nichts.

Ich bin dann in einem Fahrradforum aufgetaucht, in dem ich schon mal Hilfe gesucht hatte, wegen meiner Gangschaltung, und habe dort mein Problem geschildert.

Erstens war es ja klar, dass dies ein Novum ist, keiner hatte so etwas je erlebt! Zweitens war die Überraschung riesengroß, weil innerhalb von vier Tagen rund 150 Kommentare geschrieben wurden! Diese Hilfsbereitschaft ist enorm! Allerdings sind die meisten Vorschläge für mich nicht umsetzbar gewesen, weil oft sehr exotisch. Zum Beispiel riet jemand, das Rohr mit Beton auszugießen, eine Gewindestange hinein zu stecken, und nach dem Aushärten diese Stange oben mit einer Mutter zu versehen und dann um diese große Mutter eine Kette zu winden, das Rad auf die Seite zu legen und die Kette an ein Auto zu binden und damit im ersten Gang langsam zu ziehen, während das Rad zum Beispiel an einem Baum mit einer anderen Kette festgebunden wird. Diese und ähnliche Ideen wurden sogar positiv bewertet!

Ich verfolge ja seit meiner Jugend den ironischen Grundsatz: "Warum einfach, wenn es auch umständlich geht?" Es musste also eine pragmatische Lösung geben, auch wenn die Findung seine Zeit dauert...

Hier mein Aufruf in diesem Fahrradforum voller Tüftler:

>>Hallo zusammen, bei meinem eBike ist mir was Blödes passiert: Die große Mutter an der Sattelstütze hat sich gelöst, und die komplette Stütze ist in den Rahmen gerutscht! Sie hängt dermaßen fest, dass ich das Rohr nicht wieder raus kriege: Rad umgedreht, mit Gummihammer auf den Rahmen geklopft (nur die Feder ist raus gefallen); mit Stöcken und ähnlichem Zeug versucht, sie raus zu ziehen; Fahrradwerkstatt: eine halbe Stunde mit den unmöglichsten Versuche unternommen (Kommentar: so was habe ich in 35 Jahren noch nicht erlebt...); Autowerkstatt wimmelte gleich ab; Schlosserei: ebenfalls mit einigen Dingen versucht, dann aufgegeben. Jetzt frage ich Euch, ob ich eine neue Sattelstütze draufsetzen kann? Die Tiefe bis zum versenkten Rohr beträgt 9,5 cm. Ist es denkbar, dass man eine neue Stütze auf die erforderliche Höhe absägen kann? Ein Fahren ist so schier nicht möglich, und ein neues Rad wegen so einem Blödsinn ist doch undenkbar... Vielen Dank für Eure Ideen! Norbert<<

Ich glaube es heute noch kaum, aber die Beteiligung war so umwerfend, dass es mich wirklich fast vom Hocker haute! Sicher kamen unglaublich viele Vorschläge, die ein echter Tüftler in seiner mit Werkzeugen aller Art vollgestopften Garage in Angriff nehmen könnte; oder es kamen Bemerkungen wie "Irgendwas hineinstopfen und irgendwie heraus drehen"... Toll! Aber es ist doch erstaunlich, dass sich insgesamt 47 Leute diesem Problem annahmen und sich insgesamt 244 Diskussionsbeiträge geliefert hatten! Den Beitrag meiner Lösung schließlich seht ihr hier: