Geschichten, die das Schul-Leben schrieb

Im Landheim: Der Bolzplatz

(Norbert)

Dieser Bolzplatz war für die sportlicheren Jungs natürlich eine besondere Spielwiese: So naturverbunden konnten wir uns in Mannheim zwar auch austoben, weil die Freiluft-Sportstunden im Luisenpark stattfanden, ganz in der Nähe unserer Schule. Aber hier waren wir noch näher dran an der Natur als auf dem großen Sportgelände zu Hause: nicht nur klein war dieser Bolzplatz, sondern eben auch fast direkt am Bach gelegen, damals noch ungesichert gegen abfliegendes Sportgerät. 
 
Als ich einmal einen Ball ungeschickterweise so abfälschte, dass er fortgespült zu werden drohte, raste ich ihm hinterher und riss mir beim Herausfischen aus dem saukalten Wasser den halben Fingernagel des Mittelfingers an einem Stein der Uferbefestigung ab; aber der Ball war gerettet! 
 
Einer der Lehrkräfte, die immer zu zweit mit ins Landheim gingen, stand recht ratlos neben mir, bis ich ihn um ein Taschentuch bat, um die Blutung zu stillen. Herr Heusermann, - Gott hab ihn selig -, ein schon etwas älterer Lehrer mit im Nacken relativ langen, eisgrauen Haaren, die ihm den Spitznamen Winnetou einbrachten, suchte umständlich langsam in seinen Hosentaschen und fand ein ungebrauchtes, kariertes Taschentuch. Ich versprach, es ihm wieder zugeben, was ich aber nicht einhalten konnte: Das Blut ließ sich zu Hause nicht mehr rauswaschen. 
 
Der Bach hatte sich somit meinen Zorn zugezogen, und so beschloss ich zwei Tage später, ihn zu bestrafen: Stauen wollte ich ihn, bis zum Überlaufen, und zwar an der kleinen, niedrigen Brücke auf dem Heimgelände! 

Es war heiß zu dieser Jahreszeit, und so stiefelte ich barfuß und mit kurzen Hosen vor dem Brückchen im Bach herum und baute aus allerlei Gerümpel wie Steinen und Holz eine Staumauer. Tatsächlich schaffte ich es, die etwa 20 Zentimeter bis zum Uferrand auszugleichen und den Innenhof kräftig zu befeuchten... Keiner meiner Kameraden half mit; im Gegenteil zeigten sie des Öfteren mit  den Zeigefingern an ihre Schläfen.   
Wahrscheinlich wollten sie nur nicht zugeben, dass sie keine Ahnung hatten von der hohen Kunst des Staudammbaus! 
 
Leider hielt mein Sieg über den Bach nicht lange, weil die Lehrer meinen Prachtbau gar nicht gut hießen und ich ihn wieder abbauen musste. Einer Strafe für diesen Blödsinn in Form von Nachsitzen oder so entging ich nur deswegen, weil die Sonne zu heiß und das Wasser viel zu eisig war: Vier Tage musste ich zusammen mit fast 39 Graden mein Bett hüten... 
 
So ein Mist! 
 
Dabei entgingen mir doch glatt die angenehm wenigen Unterrichtsstunden am Vormittag; viel schlimmer aber noch: ich versäumte die viele Freizeit, in der ich weiteren Unsinn hätte treiben können! 

Schnitzeljagd in der Umgebung des Landheims

(Norbert)

Einmal veranstalteten unsere Lehrer eine Schnitzeljagd durch die Waldgegend unserer näheren Umgebung.  Wobei es in der Tat keine Schnitzel im essbaren Sinn zu erjagen gab, sondern anhand von 'Schnitzel-Informationen' eine Route erforscht werden musste und auf diesem Weg wichtige Informationen lagen, die zu finden waren.

Nachmittags ging es los, und zum Abendessen sollten wir wieder zurück sein, hieß es. 
 
Ich war irre begeistert, weil ich doch Wälder über alles liebte! Zu Hause hatte ich es nur rund zwei Minuten bis zum Rand des Käfertaler Waldes im Mannheimer Stadtteil Kirchwaldsiedlung, in dem ich schon seit früher Jugend die Hälfte meiner Freizeit verbrachte; die andere Hälfte ging auf Sportplätzen und in Sporthallen drauf. Jedenfalls so lange, bis ich die Mädels entdeckte: danach drittelte ich meine Freizeitaktivitäten... 
 
So war es also nicht verwunderlich, dass ich irgendwie meine Schnitzelkameraden aus den Augen verlor, weil meine Neugier, oder besser: meine Gier nach Entdeckung der Natur, mich vom rechten Weg abkommen ließ!  
Zu dieser Zeit, als junger Bursche, besaß ich noch nicht den Orientierungssinn, der mir später zueigen wurde; ich verirrte mich schlicht, aber ergreifend. 
 
In dieser, gelinde gesagt, recht ungemütlichen Situation entdeckte ich eine Reaktion in mir, bzw. eine fehlende Reaktion, die mich fortan durch meine kleinen und größeren Abenteuer begleiten sollte: Ich war unfähig, um Hilfe zu rufen! 
 
Natürlich dachte ich sofort daran, als ich bemerkte, dass außer Wald nichts anderes mehr um mich herum war. Aber irgendetwas hemmte mich: War es die Scham, meine Hilflosigkeit einzugestehen? Wahrscheinlich war es mir furchtbar peinlich, wie ein allein gelassenes Kind im Wald zu stehen und ‚Maaaami!!' zu rufen!  
 
Oder war es der Stolz, der mich meine Ungeschicktheit nicht eingestehen ließ? Schließlich könnte ich es auch ohne fremde Hilfe schaffen, aus diesem Dilemma heraus zu kommen! 
 
Ich denke heute, dass es die Mischung aus beidem ist, die meinen Mund in brenzligen Situationen verschließt.

Einen gewissen Instinkt besaß ich aber zu dieser Jugendzeit offenbar doch schon: ohne diesen hier erklären zu können oder die näheren Umstände beschreiben zu wollen, die mich gefühlte Ewigkeiten umherirren ließen, kürze ich ab bis zu dem Zeitpunkt, als ich mich wieder im Landheim einfand:  
Hungrig und erschöpft, aber heilfroh und - zugegebenermaßen -  auch stolz klingelte ich an der Tür, die recht schnell geöffnet wurde: von den Heimeltern!  
 
Den ersten Anpfiff durfte ich mir noch auf der Schwelle abholen: "Ja, was hat denn dich geritten?? Wo warst du, wo kommst du her?? Alle, ja, alle!! sind vor einer halben Stunde nach dem Abendessen ausgerückt, um dich zu suchen!! Was hast du dazu zu sagen??!!" 
 
"Ich hab Hunger...", erwiderte ich kleinlaut.  
 
Das verschlug den beiden die Sprache, und sie brachten mir zwei belegte Brote, die ich draußen auf der Bank vor dem Heim mit zwiespältigen Gefühlen gierig in mich hinein schob: 
Ob sich die Lehrer und Kameraden ernsthaft Sorgen um mich machten? Die armen Leute konnten ja nicht ahnen, dass ich in der wilden Natur aufgewachsen war und imstande bin, dort auch zu überleben - oder zumindest wieder nach Hause zu finden... 
 
Meinem Magen ging es recht gut nach diesem Abendessen, aber nur einen kurzen Moment lang: weitere Gedanken verhinderten eine Ausbreitung dieser Wohligkeit im Verdauungstrakt! 
 
Wie lange werden sie wohl suchen?  
Es wird bald dunkel! Ob sie schon verzweifelt sind und an Polizei und Suchhunde denken?
Was, wenn sie mich bei ihrer Rückkehr hier gemütlich sitzen sehen würden? Ich saß ja nur hier, um sie schon von weitem erkennen zu lassen, dass ich da bin und sie damit aller Sorgen entlassen kann! Aber: würden sie diese Geste auch würdigen? Oder würden sie mich eher würgen? 

O oh, mir wurde richtig übel. 

Und: Was würde ich wohl an Konsequenzen ertragen müssen? Arrest im Bach, eine Stunde lang, des Nachts, dabei Cäsars 'De bello gallico' übersetzend? 

O oh, jetzt wurde mir richtig schlecht.

Bevor ich mich in den Fluten des Baches ertränken konnte, erschollen von weit oben Rufe: Auf der schmalen Straße vom Bauernhof her kamen sie anmarschiert und winkten! 

Zuerst war ich heilfroh, aber noch im selben Moment überkamen mich Zweifel: Solches Rufen und Winken könnte auch bedeuten: ‚Hallo! Warte! Wir sind gleich da, um dich zu vierteilen! Juchuuuh!' 

Mir wurde fast schon wieder schlecht. 

Ihr glaubt es kaum, aber das Folgende ist genau so wahr wie das Vorangegangene: Ich war nicht imstande, dem Trupp entgegen zu gehen, weil meine Beine den Dienst versagten; auch geistig schlotternd schaffte ich es nur einige Schritte von meiner Bank weg, dem Mob entgegenzutreten um mich aufrecht enthaupten zu lassen! 

Meine Qual wurde jäh beendet, als sie alle eintrafen: 

Mit viel Freude und Mitgefühl wurde ich begrüßt, Erleichterung in allen Gesichtern, nirgendwo eine Zornesfalte: nicht einmal bei den Lehrern! (Oder vielleicht gerade bei denen nicht: Wie hätten die sich rechtfertigen sollen, dass ihnen ein Schutzbefohlener im Wald verlustig gegangen ist?) Die vielen Schulterklopfer und Sympathiekundgebungen machten mich allerdings etwas misstrauisch: Es gab sicher auch Kameraden, die nur froh waren, weil sie jetzt nicht in stockdunkler Nacht unter den Suchscheinwerfern von Hubschraubern den Wald durchstreifen mussten... 

Ich kam aber nicht umhin, die vielen Fragen zu beantworten, was denn - um Himmels willen! - passiert war! Die beiden Lehrer setzten sich auf die Bank, ich mich seitwärts davor auf den Boden und die Kameraden im Halbkreis so, dass die Lehrbank rechts stand und ich im Mittelpunkt dieses Ensembles: Jetzt erzählte ich mit Inbrunst, was mir widerfahren war, und ich ließ auch die Instinkte und Umstände nicht aus, die ich weiter oben in dieser Erzählung ausgelassen habe... 

Vier Schelme im Landheim

(Norbert)

Wie es die Zeit so mit sich bringt, wurden aus Lausebengeln Jungs, danach halbreife Jungs und wieder danach Jungmänner ohne Reife. 

Viele von diesen ‚halben Männern' schafften es, vollwertige, brave und anerkannte Mitglieder einer Schulklasse oder eines demokratischen Sozialstaates zu bleiben, während andere schon mit 15 oder 16 Jahren auf Demos gegen den Numerus Clausus protestierten; wobei es den meisten egal war, ob sie als spätere Abiturienten und Möchtegernstudenten davon betroffen sein würden, oder ob sie es überhaupt bis zum Abschluss schaffen würden oder  gar wollten: 
Die Hauptsache war, dass man Solidarität mit den älteren Schulkameraden zeigte und dabei die versäumten Latein- und Mathestunden (oder aus der Sicht der geistig flexiblen, aber körperlich unbiegsamen Kameraden auch die Sportstunden) auf halblegale Weise entschuldigen konnte. Ausgenommen natürlich die Kameraden,  die schon damals an ihrer Karriere arbeiteten  und lieber lernten wie die Wilden,  um einen würdigen Abschluss schaffen zu können: Eine gewisse Hochachtung hatte ich schon diesen Klassenkameraden gegenüber;  dummerweise konnte ich da mit meiner Lebensfreude - die  außerhalb der Schule erst richtig auflebte -,  nur eine gewisse Zeit mithalten! 

Somit begannen also auch im Landheim andere Zeiten: Wir wurden ein klein wenig erwachsener, blieben aber in unserem Gemüt immer noch Lausebengel, jedenfalls einige von uns: vornehmlich diejenigen, die klassenabwärts gestiegen waren, aus welchen Gründen auch immer. Ich muss hier aber ausdrücklich betonen, dass ich wegen eines schlimmen Armbruches und kurz danach wegen einer Blinddarmoperation für insgesamt rund zehn Wochen den bestimmt lehrreichen und interessanten Unterrichtsstoff des zweiten Schulhalbjahres nicht bewältigen konnte: Im Krankenhaus fällt es relativ leicht, sich unbewusst von den Themen des Schulalltags zu distanzieren...  

Da wir also älter geworden waren, - gerade die Absteiger waren ja ein Jahr in ihrer Entwicklung den anderen Kameraden voraus -, erweiterten sich die Interessensgebiete: In dieser Phase der Jugend spielt es schon eine große Rolle, ob man etwa 16 oder ‚erst' 15 Jahre alt ist! Insofern hatten diejenigen, die die Klassenkameraden zwar an Alter, nicht aber unbedingt an Klugheit überragten, einen gewissen Drang zu Taten, die sich die jüngeren vielleicht in ihren Träumen vorstellen konnten, während sie in ihren Mehrbettzimmern schliefen. 

Eine kleine Gruppe von vier Verrückten wollte das aber nicht hinnehmen, sondern ihre Taten ausleben!
Wer mich kennt, wird es erstaunlich finden, dass ich zu dieser Rotte gehörte: artig, lernbegierig, voller Respekt dem Lehrkörper gegenüber; ideenlos, völlig unwaghalsig, gar ängstlich vor allem Unbekannten; scheu und zaghaft, was neue Erfahrungen betrifft; ein Einzelgänger, der lieber seine Zeit in der Lernstube verbringt, als mit solch verbogenen Klassenkameraden Streiche auszuhecken und dabei Höllenängste durchzustehen! 
So bin ich auch heute noch, vierzig Jahre später! Jedenfalls in meinen schlimmsten Albträumen... 

Einer unserer Jungs hatte einmal aus dem kleinen Fenster der Toiletten, die im Zwischengeschoss des zweistöckigen Landheims lagen, hinausgelugt und den wahnwitzigen Einfall bekommen, dass man von hier ohne große Mühe abhauen könnte, wenn man denn wollte: Etwa einen Meter unter dem Fenster würde ein kleiner Mauersims eine Trittmöglichkeit bieten, der einem Wagemutigen den Sprung über den schmalen Bach 
ermöglichen könnte, der direkt an der Landheimwand vorbei zischte. Verrückt. Aber genial gut... 

Nach wenigen Diskussionen am Nachmittag dieser Entdeckung beschlossen wir mit diebischer Freude, einen Ausreißversuch zu wagen, an diesem Abend noch! Wir hatten uns in dem einzigen Viererzimmer des Landheims einquartiert, alle anderen waren Achtbettzimmer; das bot den entscheidenden Vorteil, dass keiner von uns Spitzbuben aus einem größeren Zimmer abhauen musste! 

Etwa eine halbe Stunde nach der befohlenen Einschlafzeit machten wir uns zu diesem Abenteuer auf: dass dabei die beiden Lehrerschlafzimmer direkt links neben uns lagen, machte die Angelegenheit noch prickelnder! Zwei der hölzernen Treppenstufen zum Zwischengeschoss allerdings ließen uns doch etwas zusammenzucken: als der erste Held darüber schlich, quietschten sie! Das war uns im lauten Tagesablauf natürlich nie aufgefallen... 

Mit klopfenden Herzen erstarrten wir und erwarteten, dass jeden Moment eine der Lehrerzimmertüren aufgehen würde! Aber es rührte sich nichts in den beiden Zimmern, die etwa zwei Meter von der Treppe entfernt waren! Die Nachfolger sahen ebenso wenig wie der Vorreiter in dem dunklen Hausgang, in dem nur ein Notlicht die Umgebung schwach erahnen ließ;  deswegen wussten wir nicht, welche Stufen die Verräter waren. Der zweite Held aber hangelte sich instinktiv am unteren Ansatz über den Stufen des alten Treppengeländers hinab, was völlig geräuschlos klappte! Diese Eingebung könnte durchaus von mir gestammt haben... 

Da ich der sportlichste von uns war, fiel mir die leise zugeflüsterte Aufgabe zu, den Ab- und Überstieg aus dem kleinen Fenster zu probieren: Glücklicherweise war im diffusen Mondlicht die Umgebung einigermaßen gut zu erkennen; also schwang ich mich hinaus auf den kleinen Mauervorsprung über dem Bach, die Hände am Fenstersims, und suchte nach einem Landeplatz am anderen Ufer, das an dieser Stelle zwar recht flach war; aber dennoch rauschte der Bach in einem gemauerten Bett!

Die Freunde hinter mir raunten mir zu: ‚Mach schon!' Also rauschte ich ab über das Rauschen unter mir mit einem kleinen Sprung in Richtung fremdes Ufer... 

Hey! Nix passiert, erstaunlicherweise! Das bedeutete, dass auch die anderen Jungs problemlos rüberhüpfen konnten, was sie nach meiner Aufforderung auch vertrauensvoll und erfolgreich zustande brachten. Der letzte zog von Außen das Fenster soweit zu, dass es nicht wieder sperrangelweit aufschwingen konnte: wir würden wohl ganz schön blöd aus der Wäsche gucken, wenn ein Kamerad beim nächtlichen Klogang das Fenstger schließen würde... Hervorragende Idee dieses letzten Helden! Dafür bekam er später von den anderen ein Glas Bier spendiert!

Gutgelaunt, mit schelmischen Gesichtern und ebensolchen, jetzt nicht mehr so leisen Frotzeleien, eilten wir flinken Fußes in Richtung der kleinen Ortschaft; vorbei an dem Friedhof, der uns jetzt in der Dunkelheit ein gutes Stück mehr Respekt einflößte als bei den täglichen Ausflügen, die wir ganz legal über die kleine Brücke am Landheim in das Örtchen unternahmen; vorbei an einem dreistöckigem Haus, das, - wie wir Schlingel und Draufgänger schon längst herausgefunden hatten -, eine Menge Mädels beherbergte; warum, blieb uns zunächst allerdings verborgen.
 
Diesen Teil überspringe ich einfach mal, weil er zu viele Informationen über die nächtlichen Taten verraten würde! Nur so viel sei gesagt: Wir hatten unseren Spaß in der Ortschaft, bevor wir wieder den mühsamen Rückweg über den Bach, in das Fenster, die quietschenden Stufen, vorbei am Lehrerzimmer, wieder in unseren Schlafraum gelangten! Spät in der Nacht, dafür aber völlig kaputt am nächsten Morgen...  
Und das dreimal die Woche!

Das Heim der Mädels konnten wir allerdings nicht besuchen; wir erfuhren aber, dass dort auszubildende Krankenschwestern beherbergt wurden, und das Gelände wurde fast hermetisch abgeschottet! Ob es uns jemals gelang, diesen Wall zu durchbrechen, - ebenso wie wir genial den Weg aus dem Landheim gefunden hatten -, könnten euch nur diese vier Jungs verraten, die diese Wagnisse auf sich nahmen... Einer davon könnte Wobbl sein, der aber leider verschollen ist! Und die anderen schweigen dezent. Hoffentlich bis heute. 
 

Ein Trommler

(Norbert)

Bei diesem Ausflug ins Landheim war ein Musiker dabei, der den Weg zu uns über den Abstieg gefunden hatte: recht groß, mit ellenlangen, schwarzen Haaren. In den Pausen hämmerte er ständig in einer bemerkenswerten Technik mit angewinkelten Fingern gleichzeitig sowohl auf die Plattenkante seines Schreibpultes, als auch von unten!

Anfangs hatte ich keine Ahnung, was das soll, aber es gefiel mir, und ich machte es nach: allerdings nur zu Hause; und dort erkannte ich, dass diese Spielerei wohl eine Art Schlagzeug ersetzen sollte. Das wurde bei mir glatt eine Manie, die ich bis ins "hohe" Alter beibehielt! Ab und an ersetzte ich dabei die Finger durch Mikado-Stäbchen, die ich wie wild über den elterlichen Wohnzimmertisch hüpfen ließ, wo auch noch andere Klangkörper herumstanden: ein Aschenbecher etwa, oder auch verschiedene kleine Vasen, die jede einen anderen Ton hervor brachten; selbst ein herumliegender Kugelschreiber hatte einen musikalischen Ton beim Anschlag!

Der Jugendschreibtisch in meinem Zimmer füllte sich danach mit allerhand anderen Dingen, die die herrlichsten Töne produzierten, wenn ich auf ihnen herum trommelte; ausgenommen so profanes Zeugs wie z.B. das lateinische Wörterbuch: es war wirklich zu nichts, aber auch zu gar nichts zu gebrauchen! Und außerdem wesentlich uninteressanter in jeder Beziehung als diese Art von Begleitmusik, die ich bei laufendem Radio produzierte, und die mir sogar noch besser gefiel als das mühsam akkurate Anwinkeln der linken Finger über den Gitarrenseiten, um einen vernünftig klingenden Akkord in mein Zimmer zu schallen.
Ja, das ist es! Schlagzeug lässt deine Seele und die Gefühle fließen! Kehrt dein Innerstes nach Außen! Lässt dich wild sein und auch melodiös und vor allem taktvoll! Es spült auch, - zart und sanft betätigt -, deine Innereien (sofern es die Gefühle betrifft) nicht nur an die eigene Oberfläche, sondern auch in die Ohren anderer und lässt sie aufhorchen... 
Nun ja, dies war einer meiner Jugendträume. Ich blieb dann doch an der Gitarre hängen, entdeckte aber auch den Gesang: dieser lässt mich ebenfalls mein Innerstes nach Außen kehren, vor allem bei solchen Improvisationen, in den ich regelrecht schreien konnte - aber immer noch stilvoll!

Verzeihung für diesen kleinen Ausflug... Jetzt wieder zurück zur Landheimstory! 
 
Olaf, so dieser Neuankömmling, schrieb in den Pausen auch oft zwei seltsame Worte an die Tafel, immer ganz links außen, ohne jemals eine Erklärung dafür abzuliefern: Jethro Tull.  
Ich hielt das für eine Art seltsam-religiöser Verehrung, vielleicht undeutliche Hinweise auf eine Art von Okkultismus, oder auch nur für Spinnerei eines Langhaarigen, auf dessen schwarze Mähne ich neidisch war: zwar hatte ich auch längere Haare, aber meine dünnen Strähnen würden diese Pracht niemals erreichen können!

Nur wenige Zeit später erfuhr ich, dass Olaf Trommler war, außerhalb des Jargons auch Schlagzeuger genannt! Und "Jethro Tull" war weder ein mysteriöses Heiligtum noch ein Mantra: einfach nur eine Band mit einem überaus genialen Leader an der Querflöte! Diese Band lernte ich später zu schätzen und konnte sie auch zweimal live erleben.

Am Abfahrtstag ins Landheim staunten wir nicht schlecht, als Olaf sein komplettes Schlagzeug anschleppte und im Bus verstaute! "In 14 Tagen ohne Übung lässt man nach", meinte er lapidar.

Aufgebaut wurde die Pracht in dem kleinen, leeren Raum neben dem Tischtennisraum, dem eigenen kleinen Gebäude auf dem Hof: man kann sich denken, wie das da drinnen dröhnte!

Ich selbst hatte mich auch mehrmals daran versucht, ohne je vorher an so einem Apparat gesessen zu haben: "Kannst du nicht mal was anderes spielen?" lautete eine Beschwerde. Immerhin sagte der Kamerad  "spielen", was an und für sich schon ein dickes Lob war. Aber mir fiel nichts anderes ein als diese relativ monotonen Trommelfolgen, wobei ich ab und zu eines der beiden Becken traf. Aber den Takt hielt ich allemal, auch mit der dicken Fußtrommel!

Olaf dagegen haute rein, was das Zeug hielt, das aber schnell 99% der Klassenkameraden und 100% der beiden Lehrkörper als schon fast körperliches Martyrium empfanden und Olaf etwas Ähnliches androhten: teeren und federn wollten sie ihn, auspeitschen oder zumindest ins eiskalte Wasser des Baches werfen! Ich konnte diese Gefühle nicht nachempfinden, obwohl es zugegebenermaßen wirklich höllisch laut war... 

Der Trommler zog die Konsequenz und haute ab aus dem Landheim!

Allerdings nicht persönlich, sondern mit seinem Schlagwerk: Er baute es irgendwo mitten im Wald auf, wo er willenlos drauflos hacken konnte und dabei höchstens wilden Tieren oder harmlosen Spaziergängern schon von weitem Angst einflößte und damit in die Flucht schlug... Und dies hielt er den restlichen Landheimaufenthalt durch; ich glaube, er ließ sein Übungsgerät sogar die ganze Zeit dort stehen!
Das nenne ich Konsequentheit: 'In 14 Tagen ohne Übung lässt man nach...'

Landheim-Finale

(Norbert)

Viele Jahre lang zog es mich immer mal wieder dorthin, an den Ort, der mir ans Herz gewachsen war:  ob mit meinen diversen, klapprigen Autos, oder auch anfangs mit meinen Kleinmopeds und später den Motorrädern.

Ich habe unser Landheim und die Umgebung in den all den Jahren bestimmt zwölf Mal besucht, wagte es aber nie, die "Heimeltern", wie sie zu unserer Schulzeit hießen, um einen Einlass zu bitten... Vielleicht hätten die vielen Veränderungen meine tollen Erinnerungen gestört?

Eines Tages allerdings, vielleicht Anfang der neunziger Jahre, als ich zuletzt dort war, klopfte mein Herz unbändig vor Freude:   
 
Über dem Eingang zu unserem Bolzplatz prangte eine riesiges Brett eines Baumstammes mit der Aufschrift "Fips Rohr-Stadion"! Eine Hommage an ein Unikum im Lehrerkollegium, zuständig für Französisch und Sport: Alleine durch seine Figur mit den ausgeprägten O-Beinen, die ihm seinen zweiten Namen gaben (Fips, der Schimpanse) - eigentlich kam 'Fips' aber von seinem Vornamen Philip; aber auch sein schon damals ältliches Gesicht, das immer zu lächeln schien, war ein Markenzeichen. Er schien unendlich geduldig und gutmütig, wurde aber stets respektiert! 
 
Ich selbst hatte zu "Fips" eine recht persönliche Beziehung: War ich doch als vielseitiger Sportler fast ständig unter seiner Obhut: ob beim Fußball, in der Leichtathletik oder beim Turnen. Zudem hatte ich Kontakt mit einem seiner Söhne, dem Gernot Rohr; mit diesem durfte ich (unter Leitung von Fips) sogar einmal ein Fußballspiel einer Mittelstufenauswahl unserer Schule gegen eine Schülerauswahl aus Edinburgh bestreiten: Gernot als Spielführer und ich im Tor! Einen kleinen Beitrag gibt es dazu auf der Kameradenseite.
 
Gernot spielte übrigens später in der französischen Nationalmannschaft und war auch zweimal im Europapokal dabei... 

Daten zu Philipp "Fips" Rohr:

*10.08.1918 † 30.09.2007

Spieler VFR Mannheim 1936 -1944, Trainer 1959 - 1962; Trainer Chio Waldhof 1973 - 1975
 
Eine spätere Begegnung mit Fips ist mir noch sehr gut in Erinnerung geblieben:  
 
Ich wollte aus wohl genetischen Gründen einfach nicht weiter wachsen und wechselte deshalb die Torpfosten: Im Mannheimer Verein SV Waldhof stieg ich zuerst aus dem Fußballtor aus wurde Mittelfeldspieler. Danach stieg ich komplett um und übernahm in der zweiten Mannschaft der Handballabteilung den Posten des Torhüters. 
 
Eines Tages, (einige Jahre nach der Schule), bei der üblichen Sitzung nach dem Training im Vereinsheim, bekam ich von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt und hörte die Worte: "Na, du hast wohl die Seiten gewechselt?" 
 
Ich drehte mich um staunte nicht schlecht: Fips Rohr stand hinter mir, mit seinem unverkennbaren, freundlichen Lächeln, das sich in diesem Moment ob meiner totalen Überraschung zu einem dicken Lachen verbreiterte! Er war zu dieser Zeit Trainer des Fußball-Zweitligisten SV Waldhof und mit seiner Mannschaft gerade ins Vereinsheim gekommen. "Jaja, ich kenne dich noch! Alles Gute!" sprach's und verschwand mit zwei Klapsen auf meine Schulter zu seinem Team...  
 
Zugegebenermaßen war ich stolz auf diese Begegnung; aber die verblüfften und fast ehrfurchtsvollen Gesichter meiner Sportkameraden gaben noch eins drauf! 
 
Ab diesem Moment erinnerte ich mich wieder so sehr an die Schule, dass ich beschloss, mit meiner 250er Suzuki (ein Motorrad ist das) wieder einmal das Landheim zu besuchen; obwohl Fips damit nichts zu tun hatte - außer seinem Namen über dem "Stadion"!
Und während dieser Schreiberei im Jahr 2012 denke ich, dass es wieder einmal Zeit wäre, dort vorbeizuschauen...

Unser lieber Dr. Schott, Lateinlehrer der ersten Güte

(Norbert)

Herr Dr. Schott - seines Zeichens ein Lehrer der alten Schule, also mit dem unbändigen Willen zum Drill seiner Schüler - konnte in seltenen Fällen auch mal lächeln: entweder zynisch, oder, wie bei seinen Versuchen, mit einem abgeschriebenen Kreiderest rückwärts über die Schulter den Papierkorb in der Ecke des Klassenzimmers zu treffen, auch mal recht befriedigt; jedenfalls, wenn er traf.

Wenn er nicht traf, duckten wir uns, denn: Im Falle eines Fehlwurfs lief sein Gesicht puterrot an, seine militärisch kurzen, eisgrauen Haare stellten sich noch gerader in die Höhe als sonst (was eigentlich physikalisch gar nicht möglich war, aber sein Zorn schaffte das tatsächlich), und dann erschien dieses andere Lächeln in seinem Gesicht, dieses zynische, leicht grausame, mit einem etwas nach vorn gebeugten Oberkörper in seinem mausgrauen Anzug:

Wir waren natürlich daran schuld, weil wir seine Konzentration bei einem Rekordversuch durch unsere Unaufmerksamkeit oder vielleicht auch durch ein Räuspern in der letzen Reihe (sechs Meter entfernt) heftigst gestört hatten!

Darauf erfolgte fast regelmäßig diese Bestrafung in einer Lautstärke, die noch die Kameraden im Nebenzimmer erschreckend hochfahren ließ: "Hefte raus, aber dalli! Vokabeltest! 20 Deutsch-Latein-Vokabeln und noch mal 20 umgekehrt in zehn Minuten! Wer sein Heft in vier Sekunden nicht auf dem Pult hat, ist durchgefallen!!!!!"

Wir erwarteten jedes Mal - nein, wir hofften! -, dass sein Blutdruck ihn in seiner Rage zerfetzen würde; sein überrotes Gesicht war ja nahe dran, aber es behielt dennoch immer seine Form; wenn auch fratzenartig.

Erwähnenswert ist hier noch, dass Herr Schott (ich lasse den Titel 'Dr.' hier absichtlich weg, weil das für eine weitere Begebenheit wichtig ist) keinen rechten Arm knapp unter der Schulter mehr hatte und stattdessen ein hölzernes, zum Körper hin angewinkeltes Ding trug mit einem grauen Samthandschuh an der nachgebildeten Hand.

Samthandschuh! Ein echter Witz, vielleicht sehr bewusst eingesetzt...

Mit dieser Prothese, die er als Dank für seinen aufopfernden Dienst im Zweiten Weltkrieg spendiert bekommen hatte, pflegte er unsere rund 40 Klassenarbeitshefte zum Bauch hin einzuklemmen, wenn er zu Stundenbeginn die Klasse in seiner rammbockmäßig gebeugten Haltung erstürmte und wie ein Berserker tobte: "Diese Klassenarbeit war einmal wieder unter aller Sau! Was glaubt ihr, wo ihr euch befindet? Im Kindergarten?!!! Nur einige wenige Arbeiten sind einigermaßen gut ausgefallen: Das ist kein Niveau, nicht bei mir!!!"

Während dieser puterroten Brüllerei ließ er unsere Hefte auf den Boden fallen, jedenfalls die meisten; einige, die er in der linken Hand trug, legte er plötzlich fast zufrieden wirkend auf sein Pult.

"Du da und du da: aufsammeln und verteilen!! Zackzack!!! Sofort Nachbesserung der Arbeit schreiben! Ich weise euch dabei ein klein wenig auf eure dummen Fehler hin! SOFORT!!!"

Wie kann ein Mensch seine Stimmbänder dermaßen strapazieren, ohne sie vollends zu verlieren? Training, dachten die Sportler unter uns: Wir können die Sehnen und Muskeln ja auch ständig belasten oder auch ab und zu überdehnen, weil wir dauernd am Üben sind. Das leuchtete selbst den weniger sportlichen Kameraden ein.

Drei Tage danach fegte er, wie es mir schien, durch die geschlossene Tür des Klassenzimmers in die nächste Unterrichtsstunde:

Nie in meinem noch unbedarften, jungen Leben hätte ich geglaubt, dass ein Mensch - dazu noch im fortgeschritten Alter! - seine eigene Explosion überleben könnte...

"Wollt ihr mich auf den Arm nehmen, stupides Pack??!!!"

Die Klassenarbeitshefte riss er dabei aus der Umklammerung seines Holzarms und schmiss sie mit der Linken zornerfüllt quer durch die Klasse. Heute denke ich gar, ich hätte dabei giftgrünen Geifer aus seinen Mundwinkeln spritzen sehen... Seine eisgrauen Augen, passend zu den spitzen grauen Igelhaaren und seinem dunkelgrauen Anzug, den er wohl nie wechselte, stierten uns dabei in den Boden.

Das Luftanhalten der Kameraden war für mich hörbar, die Steifheit auf jedem einzelnen Stuhl spürbar. Hätte jetzt jemand hüsteln oder gar niesen müssen: Das Inferno daselbst wäre unweigerlich über uns hereingebrochen!

Nach dieser Verbesserung der Nachbesserung konnte es doch eigentlich nicht schlimmer werden, oder? Weit gefehlt!

In der nächsten Unterrichtseinheit wurden wir vehement und - wen überrascht es? - äußerst lautstark angeklagt, unsere Klassenarbeitshefte in einem desolaten Zustand an den Lehrer zurück gegeben zu haben! Folge: Vokabeltest...

Wer aber jetzt glauben sollte, dass sich das über Jahre unentwegt hinweg zog, der liegt nur etwas richtig: Es gab seltene Momente, wo Herr Dr. Schott Wesens- und Lehrarten zeigte, die einem Lehrer geziemten und ihn als Pädagogen sogar als rechtmäßig ins Amt gesetzt erscheinen ließen; leider war dies viel zu selten der Fall.

Ich erinnere mich sehr gerne daran, dass wir aufgefordert wurden, anhand seinen Beschreibungen Pläne zu zeichnen, die das antike Rom darstellen sollten: Das Forum Romanum zum Beispiel entstand auf meinem Zeichenblatt in Windeseile, weil ich die eindringlichen Schilderungen des Lehrers umsetzen konnte, der diese Stätte natürlich schon besucht hatte. Zeitgleich kritzelte er mit Kreide die Umrisse und Standorte der wichtigsten Bauten an die Tafel und erklärte uns, um was es sich dabei handelte.

Ebenfalls Pompeji, in einer anderen Unterrichtsstunde: Auch hier konnte ich seine Begeisterung nachvollziehen, die er uns anhand des Lebens und Sterbens dieser Stadt vermittelte und mit der er danach die hervorragend erhaltenen Fragmente des blühenden Lebens dieser schon recht modernen Metropole schilderte, die im Aschenregen des Vulkanausbruchs der Nachwelt erhalten geblieben waren.

In diesen seltenen Momenten schien Schott irgendwie abseits von sich selbst zu stehen; er wirkte nicht nur menschlich, sondern sogar irgendwie 'warm' in Erinnerung an seine Ausflüge in die Welt der lateinischen Antike!

Ich gestehe gerne, dass ich von diesen Geschichtsstunden fasziniert war; auch deshalb, weil kaum ein Wort übersetzt werden musste... Ich hasste Latein!

Viele Jahre später, als ich selbst diese geschichtsträchtigen Orte besuchen konnte, erinnerte ich mich sehr lebhaft an diese Lehrstunden und freute mich, dass ich diese damals erleben durfte: In meinem ersten Buch hatte ich bei den Reisebeschreibungen zu diesen Stätten Herrn Dr. Schott dafür gedankt. Hier ein kleiner Auszug aus diesem  Buch, bei einem Besuch in Pompeji:

<<..., und wir erklimmen schließlich die Empore des Amphitheaters; so ziemlich das Grandioseste des ohnehin grandiosen Pompeji!

In der jetzt schon tief stehenden Sonne vermag ich geistig-leibhaftig das Treiben hier zu sehen, zu spüren und zu hören – bloß verstehen kann ich nicht viel, ich war ja kein besonders guter Lateinschüler... 

Manno, irgendwie ist das alles doch so ganz anders, als ich aus den schnöden Lateinübersetzungen noch aus der Schule her kannte; auch die überaus gekonnten und gefühlvollen Schil­derungen meines Lehrers zu diesem Thema sind in diesem Jetzt nur noch blasse Eindrücke aus der schulischen Vergangenheit! …>>

Das war es aber auch schon an Dank für diesen Lehrerlump, der uns in seiner egozentrischen Weise mit Hang zu unkontrollierten Handlungen in den Boden zu stampfen versuchte. Es ist auch heute noch völlig fraglich, was er damit bezwecken wollte, außer seinem exzentrischen Ego zu dienen - oder ihm freien Lauf zu lassen. Ein heutiger Psychologe würde einen solchen Menschen als Psychopathen bezeichnen.

Ich hatte anfangs beschrieben, dass Schott sehr gerne die Rest-Kreide rückwärts über die Schulter in den Papierkorb warf, direkt rechts neben dem Eingang des Klassenzimmers. Er übte aber auch sehr gerne eine andere Wurftechnik:

Ein während dem Unterricht unbedacht etwas lauteres Wort, also eine Prise mehr als hauchleise, konnte dem Kameraden einen Kreidefleck auf der Stirn einbringen, auch wenn er in der letzten Reihe saß! Mit unfassbarer Geschwindigkeit und Genauigkeit traf ein Kreidegeschoss aus seinem linken Wurfarm... Wie und wo hatte er das nur trainiert? Wahrscheinlich auch in anderen Klassen. Oder im Zweiten Weltkrieg.

Falls in einer solch aufmüpfigen Situation der Herr Lehrer gerade keine Kreide in der Hand hatte, tat es zur Not auch mal der Schlüsselbund in seiner linken, grauen Jackentasche... Und auch der traf kopfgenau!

Aber nicht nur die Köpfe der Schüler hatten es ihm angetan; einmal war es auch das Gegenteil, nämlich bei mir - wobei ich endlich zum Thema komme, denn diese Geschichten in dem vorliegenden Buch handeln ja von mir selbst:

Ich hatte mir an der rechten Hüfte ein Furunkel zugezogen, genau an der Gürtellinie, was recht heftig weh tat. Ein Kamerad stieß mich zufällig dort an während einer kleinen, spaßhaften Rangelei, wobei wir überhört hatten, dass die Pausenklingel schon zum Unterricht gerufen hatte.

Durch diesen überaus heftigen Schmerz reagierte ich ohne Zutun meines Hirnkästchens und stieß den Kameraden weg mit verzerrtem Gesicht, was bestimmt jeder nachvollziehen kann.

Just in diesem Moment erschien Schott in der Tür!

Sein überscharfer, eisgrauer Blick erfasste natürlich sofort die Situation in völlig klarer Lage: Ich stieß einen Kameraden! Das schrie nach Vergeltung...

In irrsinniger Geschwindigkeit, der ich absolut nichts entgegenzusetzen hatte (trotz meiner Sportlichkeit!), packte er mich mit der linken Hand im Genick, klemmte meinen Kopf zwischen seine Knie und versohlte mir den Hintern: Ein Teppichklopfer hätte keine bessere Arbeit leisten können!

Schmerzen hatte ich eh schon wegen der angestoßenen Hüfte, dazu kamen die feurigen Schläge. Die wenigen Tränen, die mir herunter rannen und für alle sichtbar waren, als er mich losließ und mich aufrecht zur Klasse hin stellte, mit der Hand am Kragen packend: Nein, diese Tränen entsprangen nicht dem Schmerz, sondern der unaussprechlichen Scham dieser Erniedrigung!

"Du glaubst wohl, dass du hier deine Kameraden vermöbeln kannst nach Lust und Laune, nur weil du ein Jahr älter bist, du nichtswürdiger Sitzenbleiber???!!!! Diese Lektion soll dir das Gegenteil beweisen!!! Beim Nachsitzen heute wirst du einen langen Vokabeltest ablegen, den du natürlich versauen wirst!!! Hinsetzen!!!"

Wenn Texte Töne abgeben könnten, würden dieses Sätze wieder einmal schrill kreischen...

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich tatsächlich ein Jahr älter war als die Kameraden, nämlich schon 12.

Warum war ich älter?

In der Erzählung „Eine unglückliche Turnstunde" habe ich beschrieben, warum ich viele Wochen ausfiel; dummerweise kam kurz danach auch noch eine Blinddarmentzündung hinzu, die mich auch wieder eine Zeit lang lahm legte; also keine Chance, den Klassenabschluss zu schaffen. Deshalb war ich ein Sitzenbleiber!
(Anm.: Diese Story ist auf meiner Seite "Tintenhuf" zu lesen.)

In einer anderen Situation fiel ich in Ungnade, weil ich ungehobeltes Kind unseren Lehrer bei einer Frage mit den Worten ansprach: „Herr Schott, können Sie...“

Weiter kam ich nicht!

Sein Gebrüll erschütterte nicht nur mich und die Kameraden; das ganze Schulgebäude schien zu erzittern: „Ein Herr Schott steht auf dem Wochenmarkt und verkauft Wurst!! Ich bin Herr Doktor Schott und lehre Latein! Schreib dir das hinter die Löffel und rede mich künftig korrekt an!!!“

Seltsam einmal wieder, dass sein Gesicht bei diesem Jähzornesausbruch nicht platzte; die Haut schien äußerst widerstandsfähig zu sein.

Seltsam aber auch, dass ich einer Stunde Nachsitzen entging, mitsamt Vokabeltest!

Ganz allgemein mochte ich Latein nicht so wirklich; im ganz Besonderen aber, weil es diesen unausstehlichen, egomanischen Teufelslehrer gab.

Mein Notenspiegel mag das sehr deutlich ausdrücken: In den Halbjahreszeugnissen fast regelmäßig eine Sechs, von der ich mich bis zum Versetzungszeugnis auf eine Fünf herunterkämpfen konnte; diese konnte ich locker ausgleichen durch gute Noten in anderen Hauptfächern.

Die absolute Überraschung war, dass ich zum Ende der Mittelstufe eine saubere Vier bekam, was das Kleine Latinum bedeutete nach sechs Jahren lateinischer Quälerei!

Herr Schott: Ich sehe Sie heute noch fassungslos, dass Ihre sadistischen Bemühungen, mich ins Abseits zu stoßen, fehlgeschlagen waren!

Wenig verehrter Herr Dr. Schott, ich gebe dabei aber auch zu, dass hier getrickst wurde: Mein Klassenkamerad 'Striebsi' hatte mir einen Teil der letzten Klassenarbeit neben der Bank zu mir nach hinten geschoben; Sie dämonisches Argusauge, in diesem Moment abgelenkt durch ein verdächtiges Räuspern eines Kameraden in der hinteren Reihe, hatten das nicht gemerkt!

Erkennen Sie das jetzt, von irgendwo da unten? Ich freue mich diebisch, ja, sardonisch!

Nachsatz:

Erst zum Ende der Mittelstufe kam ans Licht, dass Herr Dr. Schott hab-ihn-nicht-selig im vierten Stockwerk eines Hauses auf dem Mannheimer Lindenhof wohnte, was an sich ja nicht besonders reizvoll ist für diese Geschichte und auch sonst nicht.

Besonders delikat ist aber, dass meine Eltern über ihm wohnten und deren kleiner Sohn von der Geburt an bis zum Ende des zweiten Lebensjahres die Nachbarschaft malträtierte mit seinem ständigen Geschrei! (Danach sind meine Eltern, samt dem Söhnchen, umgezogen, aber nicht den Nachbarn zuliebe.)

Fazit:

Unlieber ehemaliger Nachbar: Sie wurden in Ihrer Studien- oder Refendarzeit durch mich Knirps immens gestört und ließen das später an mir aus, da ich glücklicherweise (von Ihnen aus gesehen) ein Schüler von Ihnen wurde.

Vielleicht ist das sogar verständlich; aber warum sind Sie dermaßen mutiert und mussten alle Schüler quälen? Oder war das schon immer Ihre teuflische Wesensart, entstanden und geprägt durch was auch immer?

NACHSATZ 2, verfasst von einem Klassenkameraden:

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Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl …

Herr Dr. Schott – wenn es ihn denn in der Lateinlehrer-Hölle selig macht, dann nenne ich ihn in drei Teufels Namen so – war ein Scheusal, aber kein Einzelfall.

Er konnte Schüler an guten Tagen tatsächlich für seinen Stoff interessieren, konnte durchaus spannend und anschaulich erzählen, aber das ist hier für meine Einschätzung dieses Herrn ungefähr so von Belang wie Hitlers Liebe zu Deutschen Schäferhunden für dessen Beurteilung.

Schott und viele andere Lehrer seiner Generation waren natürlich geprägt durch die damals gerade eine Generation zurückliegende, angestrengt totgeschwiegene braune Herrlichkeit und sicher auch durch den Zweiten Weltkrieg, in dem er für Führer, Volk und Vaterland seinen rechten Arm gelassen hatte.

Ja – geprägt durch die Nazizeit waren sie alle, die Fedl, Kölmel (der mich im Nachhinein immer an Roland Freisler erinnert, vielleicht, weil er ähnliche Manieren an den Tag legte), eben Schott und wie sie sonst hießen. Das waren keine guten Pädagogen, wie viele unserer Eltern damals glaubten („streng, aber gerecht“ – nun, von der Gerechtigkeit des Kollegen Schott haben wir hier ja anschauliche Beispiele gelesen), auch keine schlechten Pädagogen, das waren überhaupt keine Pädagogen. Sondern eben mehr oder weniger Scheusale.

Ich sehe es ähnlich wie der von mir hochgeschätzte Schriftsteller und Journalist Ralph Giordano („Die Bertinis“, „Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein“): Die Nazizeit wurde auch möglich durch einen lang andauernden Verlust der humanen Orientierung in großen Teilen der Bevölkerung. Eben für diesen Verlust der humanen Orientierung, dieses Fehlen fast jeglichen menschlichen Mitgefühls, der Unfähigkeit, Jugendliche zu fördern, damit die eines Tages lebensfähige Persönlichkeiten sind, ist Schott ein zwar etwas extremes Beispiel, aber kein außergewöhnliches. Sein Ziel war, uns zu funktionierenden Untertanen zu formen. Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.

Vermutlich (gesagt hat er das so meines Wissens nie, es stand auch nicht zur Debatte, denn debattiert wurde bei dieser akademischen Variante eines Unteroffiziers grundsätzlich nicht) waren eben das auch seine „pädagogischen“ Ziele, getreu übernommen vom selbsternannten größten Feldherrn aller Zeiten. Jedenfalls arbeitete er konsequent in diese Richtung. Für Gespräche mit Schülern, für Zuhören, gar für ein Abwägen, was in einem konkreten Fall gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch sei, war in einer solchen scheißbraunen Weltanschauung kein Platz. Ein Junge weint nicht, ein deutscher Junge muss Schläge einstecken können, ein deutscher Junge muss …

In einer bekannten Rede zog Schotts mutmaßliches Vorbild, jedenfalls das seiner Jugend, um die ihn das braune Pack betrogen hatte, das Fazit, die Jugendlichen würden „nicht mehr frei ihr ganzes Leben“.

Ja, Kollege Schott, du in deiner Lateinlehrer-Hölle, wo du vermutlich nicht auf dem Holzkohlengrill schmorst, auf den du eigentlich gehörst, sondern die Engel schleifst und drillst, sie mit deiner Trillerpfeife weckst wie uns im Schullandheim und „Aufstehen, fertigmachen zum Frühsport!!!“ krakeelst, ihnen Lateinvokabeln einpaukst und sie zusammenbrüllst, dass man dein dumpfes Gebrülle und das Klirren deiner durch die Landschaft geworfenen Schlüsselbunde bis zum Himmel hört – das könnte dir jetzt gerade so passen!

Thomas Striebig alias „Striebsi“, der natürlich keineswegs altersweise zu werden gedenkt – weder alt noch weise!

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Anm. des Autors: Striebsi ist selbst Gymnasiallehrer geworden und hat offensichtlich von den Fehlern der Lehrer aus seiner Jugendzeit gelernt: Seine Schüler schätzen und mögen ihn sehr!

Dem Autor selbst erging es ähnlich: In der Erwachsenenbildung habe ich stets und erfolgreich darauf geachtet, die Fehler einiger Lehrer nicht zu wiederholen und die hervorragenden Ansätze anderer, jüngerer Lehrer in meinen ganz persönlichen Lehrstil einzubringen.

Kleine Anmerkungen von Mitschülern über Schott

Zu Meinungen von Thomas Striebig verweise ich einfach auf die letzten beiden Absätze der vorherigen Erzählung.

Norbert Hufler als Autor der obigen Geschichte resumiert:

Schott war ein irrer Psychopath, falls es diesen Begriff geben sollte. Und zwar der herausragendste einer Gruppe von anderen Irren, in deren Adern braunes Blut floss!
Krass muss es im Lehrerzimmer zugegangen sein, wo junge Lehrer ihren damals aufkeimenden anti-autoritären Lehr- und Lebensstil verfochten.

Manfred Cech gesteht, dass er schon auf der Fahrt zur Schule Angst hatte, wenn an diesem Tag Latein auf dem Stundenplan stand.
Und das war drei Mal die Woche der Fall...

Thomas Kotter drückt das so aus:

>>... ist mir noch was durch den Kopf gegangen: nämlich, dass ich mir immer einen versteckten Winkel im Schulhof aussuchte (an der Stirnseite des Gebäudes, dort wo die PKW-Rampe ist) um nach einem Latein-6er (und den hatte ich oft) meine Tränen ungestört vergießen zu können. (Schott, du warst so ein Arschloch.) Ich lass das jetzt einfach mal so stehen.<<

Klaus Hadameck steuert diese Geschichte bei:

Eine Episode mit Dr. Walter Schott während der Großen Pause

In meinem Gedächtnis hat sich ein Ereignis auf dem Pausenhof tief verwurzelt. Wir waren gerade in der Unterprima und hatten das Privileg, als Oberstufenschüler das Schulgelände während der Großen Pause verlassen zu dürfen. An diesem Tag genoss Herr Dr. Walter Schott das Szenario der Pausenaufsicht, als ein Knirps ebenfalls über die Treppe die Flucht nach draußen antrat. Mit strengem Blick und unüberhörbarer Lautstärke ermahnte er den Jungen, dass es ihm nicht gestattet sei, die Maginot-Linie zu überqueren. Der Knirps unbeeindruckt erwiderte laut und in bestem Mannheimer Dialekt: „ Wass willschdt du denn du Arschloch“.

Unser allseits verhasster Lateinlehrer blieb regungslos stehen, erwies sich als rat- und ideenlos, auch sein sonst so herrschsüchtiges Krakeele versagte vollends ob dem Widerhall des Knirpses. Erstarrt zur Salzsäule analog der Geschichte aus dem Alten Testament stand er bedröppelt da. Ich bin gewiss nicht bibelfest, aber in diesem Moment habe ich ganz intensiv an diese Stelle gedacht. Ohne weiteres Ansinnen machte er schließlich kehrt, aber diese Niederlage in der Öffentlichkeit musste bei ihm Spuren hinterlassen haben. Und ich selbst verspürte eine unglaubliche innere Befriedigung sowie ein stilles Gefühl von Freiheit gegenüber dem Tyrannen. Obgleich ich eingestehen muss, dass ich das gleiche nicht gewagt hätte. Selbst als Unterprimaner nicht.

Diese Episode – dieser Verlust an Autorität (Armutszeugnis) dieser Mut zum Widerspruch – hat mein späteres Leben geprägt. Beflügelt durch den kleinen Knirps, habe ich gelernt, immer dann die Stirn zu bieten, wenn es nötig wurde. Insofern hat Dr. Walter Schott völlig unbeabsichtigt meine Vita beeinflusst.

Beitrag eines Schülers, der erst 1975 in die Schule kam

Lieber Herr Hufler,

als ich an diesem Abend ein wenig im Netz surfte, stieß ich auf Ihre Site und die überaus zutreffenden Schilderungen der Zustände am Lessing-Gymnasium.

Ich kann es mir nicht verkneifen, Ihr Psychogramm des Herrn Schott zu ergänzen.

Ich bin wohl ein anderer Jahrgang als Sie, ich kam 1975 aufs Lessing und hatte ihn als Mathematiklehrer. Schon in der ersten Stunde wurden wir 10-Jährige angeschrien und mit einer uns vollkommen unbekannten Art der Mathematik konfrontiert, der Mengenlehre. Formeln, die dieses Scheusal ohne Erklärung an die Tafel schrieb und nur meinte "Wer das nicht kapiert, gehört hier nicht hin".

Wir waren wohl einer der ersten Jahrgänge, in denen auch Mädchen unterrichtet wurden und es war Lehrern wie Schott und einigen anderen anzumerken, dass die davon völlig überfordert waren. Sie waren entweder übertrieben höflich und vorsichtig oder versuchten sie zu ignorieren. 
Das würde wohl auch zum Bild faschistischer Charaktere passen.

Das Lessing hätte fast mein Leben ruiniert, ich habe die Zeit dort als gewalttätig von Seiten den Lehrer und vieler Mitschüler in Erinnerung. 
Gewalt seitens einiger Schüler wurde sogar toleriert und nur wenige Lehrer, Fips Rohr z. B., versuchten, dem entgegenzuwirken.
Ich blieb zwei Mal sitzen, wegen Mathe, Englisch und Latein. Das war sogar ein Glücksfall, denn auf der Realschule hatte ich fähige und engagierte Lehrer, die mir zu einer sauberen Mittleren Reifen verhalfen. 
Ich wechselte anschließend auf das Bach-Gymnasium und auch dort herrschte eine sehr konstruktive, freundliche Atmosphäre. Ich traf dort auf einen alten Mitschüler vom Lessing, der den Unterschied so beschrieb: "Wenn du am Lessing Hand in Hand mit deiner Freundin über den Schulhof gingst, hat einen der Hausmeister getrennt. Wegen des Anstands. 
Prügeleien und Misshandlungen wurden hingegen geduldet. Und jetzt am Bach ... muss man fast schon eine Freundin haben und in der Ecke mit ihr rumknutschen."

Ich habe später übrigens Geschichte und Anglistik studiert und musste dazu das Latinum nachholen, was mir auch mühelos gelang. In einer Umgebung wie der Uni, in der die Lehrkräfte auf Augenhöhe mit den Schülern sprechen, war das ein Klacks. Und Freude hat es mir auch bereitet.

Antwort von Hans Back:

Ja, das kann ich nur bestätigen. Schott hat sicher einige Schüler zu Grunde gerichtet, die es dann leider nicht mehr, wie Du, gepackt haben. Mich hat er mal durch das halbe Klassenzimmer geschmissen, ich wusste damals gar nicht für was. Vom psychischen Terror einmal abgesehen. Zum Glück, gibt es sowas heute nicht mehr.

Ich erinnere mich noch an seine Antrittsworte: Ich heiße Schott, Dr. Schott, Schott heißt jeder Metzger. Im Grunde genommen war es ein armes Schwein, was ihn aber nicht von Schuld freispricht.

Schott (es fällt mir echt schwer von Herrn Schott zu sprechen) hatte ich übrigens viele Jahre später (fast 25) direkt nach der Geburt meiner Tochter vor dem Krankenhaus in Mannheim getroffen. Er hatte mich sogar gekannt. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, dem Typen, falls ich ihn  je treffen sollte, meine Meinung zu sagen. Dann war es soweit, was ich aber sah, war ein altes Hutzelmännchen und ich war noch so von der Geburt meiner Tochter beeindruckt und einfach nur happy, dass alles geklappt hat, dass ich damals den Mund hielt. War eh alles zu spät. Habe es dann am nächsten Tag bereut, aber was soll es.

Ein anderer Schüler, Antritt 1974

Hallo Norbert,

ich bin gerade über die Geschichten vom lieben alten Schott gestolpert. Ich bin 1974 ins Lessing gekommen und hatte ihn ebenfalls als Lateinlehrer. Wenngleich auch ich einen Heidenrespekt vor dem Mann hatte sind meine Erinnerungen nicht ganz so harsch. Vielleicht hat er sich aber auch nur etwas in Präsenz der Mädchen zurückgehalten, wer weiss? Ich habe sogar noch eine Tonaufnahme von ihm welch ich mit meinem Kassettenrekorder heimlich unter dem Tisch machte als er uns eine Weihnachtsgeschichte vorlas. Angst vor ihm, sicher, aber rotzfrech trotzdem... :-)

Dann erinnere ich mich wie er uns mit seinem dämlichen Spruch zusammenstauchte wenn wir auf Latein Unsinn erzählten: "Das Eichhörnchen rennt den Baum hoch und das Klavier ist auch aus Holz... " Oh Mann!

Tja und dann hat er doch tatsächlich und so unglaublich es auch klingen mag eine Sammelbestellung gemacht für das "Lexikon der Rockmusik". Es kann sein dass ich auch dieses noch irgendwo habe.

Schläge hat es auch nicht mehr gehagelt. Ich glaube das wäre ihm zu dieser Zeit auch nicht mehr so gut bekommen. Das hätten wahrscheinlich weder Eltern noch andere Lehrer mehr geduldet.

Was die Schilderung der Atmosphäre im Lessing anbelangt welche ich von einem der ehemaligen Schülern las kann ich dem nur zustimmen. Ich habe es vier Jahre ausgehalten bis ich alles daran setzte nicht mehr dorthin zurückkehren zu müssen. Ein Mobbing ohnegleichen weswegen nicht nur ich die Schule verlassen habe sondern auch etliche andere meiner Klasse.

Nichtsdestotrotz habe ich auch sehr angenehme Erinnerungen. Das Landschulheim beispielsweise mit unserem Klassenlehrer Herrn Tannenberger. Von welchem ich übrigens auch noch einen kleinen Film besitze. Über eine Art Schnitzeljagd nebst Schatzsuche im und um das Landheim.

Alles in allem war es eine sehr gemischte Zeit für mich.

Liebe Grüsse Stephan

 

Antwort von Hans Back:

Hi Stefan,

vielen Dank für Deinen kleinen Bericht. Ja der Schott hat sich im Laufe der Zeit etwas geändert, das hatte sich ganz zum Schluss, als die Demos Anfang der Siebziger waren, schon angedeutet. Plötzlich ließ er sich die Haare wachsen, na ja von 2 mm auf 2 cm, aber immerhin. Trotzdem war der Kerl für uns alle eine Katastrophe und für einige war er auch ein psychischer Sargnagel. Diese Schuld hat er auf sich geladen.

Aber interessant, wo sich ehemalige Lessingschüler überall rumtreiben.

Herzliche Grüße aus der Kurpfalz. Auch wenn ich in meinem Berufsleben mehr im Ausland als daheim war, in der Kurpfalz werde ich wohl meine Restlebenszeit verbringen.

Hans

Nachruf

Hier trennen sich wohl die Ansichten des Kollegiums von denen der Schüler.

Aber über frisch Verstorbene soll man ja nichts Schlechtes sagen...

Sonstige Erinnerungen...

Brezelkampf

Tommy Kotter schrieb mir mal eine kurze Begebenheit, die mir super gefällt:

>> Erinnerst du dich noch an die ziemlich beleibte Brezelverkäuferin? Wir waren alle noch nicht viel größer als ein Gartenzaun, da stürmten wir nach dem Klingeln wie die Geisteskranken in der großen Pause auf den Brezelkorb dieser "Dicken Berta" los, welche sich wie du bestimmt auch noch weißt vor dem zuenen der beiden Türflügel der Hofeingangstür des Gymnasiums platzierte.

Für mich als kleiner Junge war das jedesmal ein kleiner Überlebenskampf. Ich erinnere mich nur noch an die Enge, die Schreierei, die Geldrückgabe, wehe dir fiel ein "Zehnerle" runter in diesem Gewühl. Gefühlte hundert Schüler - leider keine Schülerinnen, sonst hätte ich da wahrscheinlich ganz andere Erinnerungen - drängelten sich zu diesem Brezelkorb, welche die Dame immer wieder von ihrem dicken Bauch wegzuschieben versuchte mit den Worten: "awwer Buwe, jetzard drängelt doch net so, es sinn genug Brezzel fa alle do". Dann ging die Schubserei weiter.

Später beim Eintritt bei einigen Rockkonzerten (natürlich in den 70ern, heute geht das ja alles gesittet zu) hatte ich so ein ähnliches Feeling wie damals beim Brezelkampf. <<

Ja, Tommy... Und ich erinnere mich auch noch an die Milch- und Kakao-Ausgabe: Diesen Geschmack aus den kästchenförmigen Tüten kann ich noch leise verspüren... Oder waren es dreidimensionale Dreiecke? Da bin ich mir nicht mehr sicher... Diese Pyramidenbehälter kamen - glaube ich - erst später.

Kleine Erzählungen

von Norbert

Ein Flug - Ein Zuckerbrot - Ein Chemielehrer - Ein Verlust - Ein Fehler

Flug aus dem Klassenzimmer

Ossi, nicht nur Klassenkamerad, sondern auch Freizeitfreund, schmiss aus lauter Jux und Dollerei in der Pause erst meinen Radierer aus dem offenen Fenster im vierten Stock; ich lachte nur über diesen witzigen Einfall. Als danach aber auch Bleistift und Füller von meinem Pult diesen Weg nahmen, musste ich reagieren, um mich nicht zum Hansel zu machen!
Kurz entschlossen packte ich Ossis Schulmappe und schmiss sie hinterher...

Wir lachten beide wie verrückt, ich aber nicht so lange wie er! Dummerweise wurde ich nämlich erwischt und mir wurde die Ehre eines Direktionalarrestes nach dem Ende des Schultages zuteil; natürlich erst, nachdem ich Ossis Zeug von Gehweg und Straße geklaubt hatte: Dies musste natürlich sofort geschehen, so dass ich die Schultasche erst mit Verspätung in die nachfolgende Stunde bringen konnte. Es fehlten, glaube ich, nur Füller, Bleistift und Ratzefummel.
Was aber nicht fehlte war ein Eintrag im Klassenbuch: 'Kommt verspätet zum Unterricht der dritten Stunde'.

Bei der Schulbesichtigung im Jahr 2013 wurde ich unsanft daran erinnert: Im Rektorat wurden wir an dem Tisch empfangen, an dem ich die Strafarbeit ein paar Jahre zuvor schreiben musste...

Menta (Mentha?)

Dieser Chemielehrer war so eingefahren und stoisch, dass es geradezu lautlos krachte:

Nicht nur, dass er aus lauter Faulheit in jedem Jahr die gleichen Klassenarbeiten schrieben ließ, was einige findige Jungs anhand ihrer guten Kontakte zur darüber liegenden Stufe herausfanden. Menta war auch überhaupt nicht aus der Ruhe zu bringen, wie ein Experiment im Unterricht verdeutlicht:

"Wie wir ja schon theoretisch wissen, reagiert Natrium auf Wasser enorm empfindlich. Dies wollen wir jetzt praktisch beweisen."

Er baute am vorderen Rand seines Tisches eine Schutzwand aus Glas auf, dahinter platzierte er ein langes, ovales, etwa 15 cm hohes Glasgefäß und füllte es zur Hälfte mit Wasser. Aus einer dickbauchigen, braunen Glasflasche entnahm er ein kleines Stück Natrium mit so etwas wie einem Teeei, schüttelte dabei das Petroleum ab, in dem das Natrium lagern musste und ließ es ins Wasser gleiten: Das Natriumchen zischte etwas unzufrieden und sauste eine kleine Strecke durchs Wasser; dann war es weg.

"Nun, das war wohl etwas wenig!"

Er tauchte noch einmal in das braune Gefäß und lockte ein größeres Stück in den Pool.

Augenblicklich gab es einen Kracher mit Blitz, aber ohne Donner, und die Badewanne zerbarst mit lautem Geklirr! Die Kameraden der unteren Reihe in diesem Hörsaal duckten sich unwillkürlich, die anderen zogen auch die Köpfe ein! Mit so etwas rechnet natürlich niemand, bei einem ebenso erfahrenen wie ergrauten Fachmann.

"Nun, das war wohl etwas viel" sprach's und betrachtete seinen blutenden Finger.

Ein Verlust

Tatzeit: Obertertia vor Ende des zweiten Halbjahres

Täter: unbekannt

Tatobjekt: Klassenbuch

Es begab sich eines Morgens - möglicherweise war es Dienstag -, dass ein Lehrer sehr verdutzt war: das Klassenbuch fehlte!

Die Klasse an sich war sogar mehr als verdutzt und überrascht, ja, gar entsetzt! Immerhin wurden hier Bemerkungen eingetragen, die einen Schüler in den Himmel heben konnten, bspw. 'immer mehr als pünktlich', 'meldet sich ständig überaus eifrig', 'kann das ABC sogar rückwärts', 'heute akkurat gekämmt' und weitere elementare Wichtigkeiten, die sich eventuell bei der Notenkonferenz positiv auswirken können.

Es gab jedoch hie und da auch Kameraden, die auf solche Eintragungen nicht besonders stolz waren. Dazu gehörten Anmerkungen, die im Prinzip eher beiläufig dahergeschrieben wurden und sich in keinem Fall um die inneren Werte eines Schülers kümmerten!

Eine kleine Auswahl: 'fehlt unentschuldigt', 'fehlt unentschuldigt', 'fehlt unentschuldigt'; bohrt bei Bio in der Nase; zeichnet Häuschen in Mathe; schreibt lateinische Schimpfwörter in Deutsch; beleidigt gedanklich den Lehrkörper in Latein; macht sich lustig über ein explodiertes Experiment in Chemie; guckt unter den Rock der Lehrkörperin, als wäre das Bildende Kunst!

Kurzum: Es herrschte einstimmig Uneigkeit! Was war geschehen? Wer und: warum?

Möglichkeit 1 wurde favorisiert: Ein Neider oder gar eine halbe Schar solcher Nichtsnutze sabotierten die wohlwollenden Eintragungen, um Vorteile anderer zu reduzieren.

Möglichkeit 2 wurde aber aus humanen Gesichtspunkten nicht weiter in Erwähnung gezogen. Schließlich ruderten wir alle im selben Klassenboot! Ergo kann es niemand aus dieser Klasse gewesen sein, weil es aus rein menschlichen Gründen nicht möglich sei, dass ein schlechter Kamerad einem guten Kameraden einen Vorteil rauben würde! Basta.

Somit beendeten wir diese Untertertia alle mit ohne besonderen Eintragungen...

Ein paar Wochen später, in der Winterpause, eröffnete mir Ossi: "Das Klassenbuch schwimmt wahrscheinlich schon in Richtung Basel!"

Er war in Geografie (damals Erdkunde genannt) ein echtes Ass; schon damals hatte er erkannt, dass der Neckar in den Rhein fließt und nicht umgekehrt.

Ein Zuckerbrot

Fingerspitzengefühl muss man haben als Lehrer!

Ich bin nicht ganz sicher, aber es muss ein gewisser Herr Fedel gewesen sein, der dieses Gefühl zur Kunst erhob.

Hatte ein Schüler eine kleine Unachtsamkeit begangen, zum Beispiel, dass er an einer völlig ungerechtfertigten Stelle leise kicherte (oder auch nur die Augen rollte), passierte Folgendes:

Der rechte Arm des Lehrers streckte sich aus, die Handfläche zeigte nach oben, der Zeigefinger befahl dem Verbrecher durch Ausstrecken und Zusammenziehen unmissverständlich, dass der Täter nach vorne zu kommen habe...

Dort angekommen, vernahm der Unglückliche die Worte: "Du hast wohl heute noch kein Zuckerbrot bekommen?"

Sogleich legte er feinfühlig Daumen und Zeigefinger vor das linke Ohr des armen Kameraden, dort, wo nor noch kleine Haare sprießen. Weit weniger feinfühlig zog er daran - nach oben! Gaanz langsam, aber unerbittlich...

Möglicherweise wurde diese Technik auch im Ballett angewendet, um die Tänzer auf die Zehenspitzen zu bringen; bei jungen Schülern klappte das jedenfalls prima.
Im allerletzten Moment, bevor es keinen Boden unter den Schuhspitzen mehr gab, ließ er los und verpasste einem in dieser Hundertstel Sekunde des Zurückstürzens noch eine Kopfnuss, die sich gewaschen hatte; sein sardonisches Grinsen dabei ähnelte einem seiner 'braunen' Kollegen, der hier auf dieser Page schon unangenehm erwähnt wurde, als Lehrer einer ausgestorbenen Sprache.

Jahre später wollte ich mir einen Bart stehen lassen, inklusive Koteletten. Das klappte aber nicht: An einer bestimmten Stelle wuchsen einfach keine Haare...

Ein Fehler

Unseren armen Striebsi hatte ich einmal gehänselt: Ich hatte ihm aus nächster Nähe einen kleinen Papierballen an die Stirn geworfen!

"Warst du das? Hm, hm?!!" fuhr er mich an. "Quatsch, das war der … neben mir!"
Sogleich fuhr er den Kameraden neben mir an, der die gleiche Antwort gab.

Dies war der Punkt, an dem ich erwachsen wurde: Ich schämte mich unsagbar, eine solch schlimme Sehbehinderung für einen Scherz missbraucht zu haben!

Diese Situation und die damit verbundene 'kleine' Erfahrung führte zu Größerem: Mein Denken und Fühlen änderte sich.

Danke, Thomas Striebig - Striebsi -, für diesen Wandel in meinem Leben! Gleichzeitig aber auch meine Entschuldigung für diese Ungehörigkeit, die ich jung und naiv begangen hatte.

Eine kleine Geschichten-Broschüre

von Hada

DAMALS war’s, als ein Schuss Frivolität in die heiligen Räume des Lessings-Gymnasiums Einkehr hielt und die von Staub und Spinnennetzen heimgesuchte Lehranstalt wieder zum Leben erwachte. Und dies in der Gestalt eines bajuwarischen Urgesteins von Weib, die wir nur …die Ströhlein… nannten. Es war die Zeit, als die Röcke der Weiblichkeit kürzer gerieten als unsere Lederhosen. Und diese Ströhlein mit der Beinfreiheit und manchmal auch etwas mehr ließ uns wahre Blicke bis in die Poebene gewähren. Insbesondere dann, wenn die Hinterbänkler unserer Klasse sie aufforderten das geschriebene Wort an der Tafel ganz oben zu platzieren, weil sie sonst an der Lehrstunde nicht teilhaben konnten. Und immer lauter wurde der Ruf nach …höher, höher, bis die Ströhlein vor Schreck erkannte, dass auch ihr Rock immer …höher, höher rutschte und stramme Waden, muskulöse Oberschenkel und ja ihr wisst schon offenbarte. Und in Adaption eines Tarantino Filmes war dies der Beginn eines neuen Zeitalters und beendete … no school for old men!


DAMALS war’s, als pünktlich zum Unterrichtsbeginn ein Mathematiklehrer in unser Zimmer schwebte. In der prall gefüllten Tasche die Arbeitshefte, welche dann in einer huldvollen Zeremonie zunächst an die Probanden verteilt wurden. Danach nahm er salbungsvoll die Kreide zur Hand, um die erste Aufgabe an die Tafel zu skizzieren. Und so verging Minute um Minute unserer kostbaren Zeit. Endlich hatte Silberlocke Fedel dann die vier Aufgaben mühevoll und in schönster Schreibschrift in A + B gegliedert an der Schultafel fixiert. Ein Aufatmen war spürbar in den einzelnen Reihen zu hören, dachte doch jeder von uns, dass dies nun der Weisheit letzter Schluss war. Doch weit gefehlt (gefedelt) hatte Silberlocke noch eine Überraschung parat. So gefühlte 5 Minuten vor dem Pausengong – High Noon lässt grüßen – malte er noch eine fünfte Prüfungsaufgabe wieder schön in A + B gegliedert zum Erreichen einer EINS an die Tafel. Unsere Schweißtropfen fielen tonnenschwer zu Boden ob der schier unlösbaren Herausforderung. Aber das war eben Slberlockes Maxime – die Wege zum Ruhm zu erklimmen führten nur über ihn.


DAMALS war’s, als ein anderes mathematisches Lehrergenie - ich lass' das mal so stehen - uns von einer nächtlichen Begegnung der Dritten Art berichtete. Wir kannten ihn zuvor nur als musikalischen Geist in Dur und Moll. Und geisterhaft und nebulös gestaltete er Jung auch seinen Unterricht in Mathematik. Aber nun zu seiner Geschichte. O-Ton Jung: „ Es war dunkel in unserem Schlafgemach und ich musste meine Frau wecken, da ich ein dringendes (drängendes) Problem mit ihr lösen musste“. Wir alle spitzten unsere Ohren ob dieses geheimnisvollen Statements. Die einen schmunzelten bereits, andere fühlten sich in einen Softsexfilm versetzt. Doch als schließlich der Auslöser durch unseren Jungspund verkündet wurde, machte sich schallendes Gelächter breit. Ein mathematisches Problem musste im Ehebett gelöst werden, weil es ihn ansonsten zur Verzweiflung brachte. Fazit: Auch dieser Lehrer ließ mich verzweifeln.


DAMALS war’s, als ein Referendar für Mathematik - er nannte sich Samstag und nicht Freitag – einen gar wunderschönen Vortrag zur Handhabung des Rechenschiebers hielt. Ich weiß, die Mathematik lässt und ließ mich nicht in Ruhe – vielleicht weil es sich hierbei um viele Nullen handelt. Ihr wisst: Der Rechenschieber beinhaltet eine logarithmisch skalierte Zunge, welche man gegen den Stabkörper verschieben kann, wodurch Berechnungen wesentlich einfacher ausgeführt werden können. So ähnlich ist wohl die Funktion. Anders jedoch bei dem besagten Referendar. Herr Samstag fabulierte minutenlang über dessen Handhabung. Zuvor müsse allerdings das Gerät gut in Schmierseife getränkt werden, damit es flutscht und nicht klemmt und so zu einer Blockade werden kann. Das war derart köstlich und nach Slapstick Manier bis sein Mentor Herr Heusermann diese endlose Tirade abrupt unterbrach und ihn aufforderte endlich mit der Unterrichtseinheit zu beginnen. Das war die Lachplatte des Jahres schlechthin.


DAMALS war’s, als im Herbst die bunten Blätter - rote, gelbe, grüne und weitere Schattierungen – von den Laubbäumen sanft zu Erde fielen. Einige von uns hatten dazu einen wunderbaren Gedanken frei nach Peter Pan. Warum die Blätter achtlos auf dem Boden verrotten lassen, wenn man sie nicht nützlicher anwenden kann? Gesagt getan begann ein Räumkommando mit dem Sammeln dieser Spezies, um sie nach Art des Verpackungskünstlers Christo an einem noch nicht benannten Ort zu platzieren. Kurz entschlossen fiel eine Ente ins Visier der Künstler. Diese wurde gestalterisch auf das Feinste verpackt, sodass das Endprodukt „ eine Ente mit Blätterbeschichtung“ sich heraus kristallisierte. Der deutsche Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner, Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, Joseph Beuys, wäre hellauf begeistert gewesen ob des künstlerischen Ambientes. Im Gegensatz zu unserem Protagonisten (Herr Mehrer) und der Ente Eigentümers (Citroen 2 CV), welcher zutiefst beleidigt das Kunstwerk kurzerhand zerstörte. Leider gibt es hierzu keine Bildaufnahmen.

DAMALS war’s, als für Leibesübungen - so in gedruckter Schrift im Zeugnis – ein Homo Sapiens sich für Sport zuständig hielt. Diese Zuständigkeit wurde ihm wohl mangels Qualität und Masse an geeigneten Lehrkörpern zugebilligt. Von Sport hatte er im Übrigen keinerlei Ahnung. Wenn ich mich noch recht erinnere lautete sein Name Reinhard(t) oder so ähnlich. Mehr als abenteuerlich bezeichne ich seine Notengebung: In den Wintermonaten in der Schulsporthalle erhielt derjenige eine Eins, wer problemlos den vierstufigen Kasten überqueren konnte. Ein Schüler bekam sogar die Eins+: In der Manier eines Springreiters ohne Pferd hatte er nämlich kurzerhand das Sportgerät umgestoßen. Das muss Fritz Bazlen gewesen sein. Im Sommer gestalteten sich die Beurteilungen noch eine Idee einfacher. Wir mussten einmal die 400 Meter Bahn auf dem Platz im Unteren Luisenpark umrunden und je nach Zieleinlauf wurden die Noten dann vergeben. Auch hinsichtlich seines Outfit hat er Maßstäbe gesetzt. Sein Schuhwerk – rechts (rot) und links (grün) – zeigte keine Spur von Einheitlichkeit. Entweder zeichnete er sich durch eine gewisse Sparsamkeit aus oder es war seinem nächtlichen Umtrunk geschuldet. Jedenfalls saß er des Öfteren genüsslich bei einer Tasse Kaffee vor dem Kiosk auf einem Biergartenstuhl und zelebrierte seinen Unterricht.

Damals war’s, als Paul Buchert ein kurzes Intermezzo in Geographie gab, bei uns hieß es noch Erdkundeunterricht. Paul Buchert seines Zeichen Hofchronist des Stadtteils Rheinau und zugleich CDU-Stadtrat innerhalb der Mannheimer Bürgerschaft. Aber Hand aufs Herz: „ Nostalgie ist noch lange kein Grund CDU zu wählen“ (Klaus Staeck). Er wurde auch schlicht „Paule“ genannt. Oder wie die Hardliner ihm auch gerne das Synonym Marty Feldman anhefteten. Warum wohl? Paule hatte jenes Äußeres, von dem man in der Regel sagt, dass es jemanden nicht gerade zum Filmstar prädestiniert, es sei denn zum Komiker oder Lehrer. Und zweifelsohne mit seinen unkoordinierten Glupschaugen und den wirren Haaren vereinte er beides in sich. Paul Buchert outete sich als wahren Fußballfan: konnte er doch sämtliche europäische Hauptstädte mit Namen versehen - wie „Partizan“ Belgrad (damals noch Jugoslawien), „Rapid“ Wien, „Real“ Madrid, „Benfica“ Lissabon – um nur einige exemplarisch zu benennen. Wer Derartiges beherrschte konnte sich zumindest einer Zwei sicher sein. Zuweilen entwickelte er aber auch massiv autoritäre Züge. So mussten sich einmal 6 Eleven - natürlich war auch ich dabei – in Reih‘ und Glied wie Schießbudenfiguren zum mündlichen Abhören vor der versammelten Klasse bewehren. Im Rhythmus einer Maschinengewehrsalve feuerte er die Fragen ab ohne die geringste Chance zum Nachdenken geschweige zum Antworten. Ergebnis Sechs Sechser. Allerdings hatten wir uns damals erstaunlicherweise solidarisch gezeigt, beim Direktor beschwert und erfolgreich eine Notentilgung erzielt. Da halfen ihm auch seine Glupschaugen nichts mehr.

Le petit prince oder die Klassenfahrt gen Süden

von Hada

Prolog - Wetten, dass - Kulturelles - Tante Emma - Am Strand - Die PartyOrkanböen

Prolog

Es ist wirklich wahr geworden. Unsere Klasse ging auf große Wanderfahrt an das Mittelmeer. Genauer gesagt auf die île des Embiez, eine beschauliche Miniinsel vor der Metropole Toulon. Zuvor mussten allerdings noch einige organisatorische Maßnahmen besprochen werden. Und hier beginnt mein Part. Unser Französischlehrer – auch le cheval oder Fury genannt – und dies war seiner markanten Gebisskonstruktion geschuldet, benötigte einen versierten Musiktechniker, welcher mit Tonbandaufnahmen vertraut war. Da ich just zu diesem Zeitpunkt ein Grundig Gerät mein Eigen nennen konnte, fiel die Wahl unweigerlich auf mich. Also willigte ich ein, meinen Erfahrungsschatz in diesem Metier einzubringen.

Es folgte ein Besuch bei dem besagten Französischlehrer in seinen Privaträumen. Schon der Willkommensgruß an seine Lieben … Bonne journée mes proches … verhieß mir nichts Gutes. Denn es wurde ausnahmslos französisch gesprochen, worauf ich nur spärlich antworten konnte und wollte. Auch das Vinyl Angebot bereitete mir zusehends Kummer und die Stirnfalten verengten sich immens. Denn was da zu mir herüber wanderte war zweifelsohne für Chanson Enthusiasten eine Augenweide, aber nicht für Heranwachsende, welche ausschließlich ein Faible für Rockmusik offenbarten. Schließlich sollte die Musik bei einer gemeinsamen Party mit den französischen filles et garcons intoniert werden und derart für ein gemeinsames Erlebnis sorgen. Um meinen guten Willen zu demonstrieren habe ich dann Jacques Brel, Barbara, Edith Piaf und weitere No Names aufgenommen, aber ziemlich frustiert das maison wieder verlassen. Vorab kann ich die Leser dennoch beruhigen, denn in meinem Privatarchiv, welches ich natürlich mit auf die Reise nahm, waren ganz andere Töne zu hören.

Wetten, dass … - Les Paris qui …

Nach einer nächtlichen Busfahrt durch verschiedene Regionen (Departements) Frankreichs sind wir bei herrlichem Sonnenschein im Hafen von Le Brusc zur Fährüberfahrt erschöpft aber glücklich angekommen. Erstmals habe ich das Meer wie viele von uns live erblickt. Das Wasser an der Anlegestelle war nicht gerade einladend. Dennoch warf sich ein Unterprimaner (es waren zwei Klassen an Bord) todesmutig in das ölverschmutzte Kielwasser. Was war geschehen und die Ursache für diesen morgendlichen Sprung ins kühle Nass? Natürlich eine Wette! „Wenn du ins Wasser springst schenke ich dir einen Zehnmarkschein … Kaum ausgesprochen stürzte sich einer - den Namen habe ich vergessen – in vollem Klamottenornament in das salzige Etwas. Der Gestank von Salz, ÖL und anderen unangenehmen Gerüchen begleitete uns während der gesamten Fährüberfahrt.

Und diese Wettleidenschaft setzte sich auf der Fähre gnadenlos fort. Kein Geringerer als unser Herr Mehrer sollte das Opfer eines zweiten unrühmlichen Beispiels sein. In Anbetracht der Inselabgeschiedenheit hatte unser Französischlehrer nämlich einen neuen Satz Boule-Kugeln in einer repräsentativen Box mitgenommen. Stolz zeigte er seine neueste funkelnde Errungenschaft. Kaum ertönte jedoch der magische Satz …“ Wenn du … , landete eine der Boule Kugeln geschmeidig, fast lautlos ins nunmehr glasklare Meerwasser. Einen Zehnmarkschein für den Akteur und ungläubiges Entsetzen spiegelte sich in den Augen unseres Herrn Mehrers wider. Ein Zwischenfall, welcher nicht spurlos vorüber ging. Denn meines Wissens blieben die restlichen Utensilien dann unter Verschluss.

Kulturelles nach Wikipedia garniert mit Ausflügen

Die île des Embiez ist eine französische Insel im Mittelmeer. Es ist die größte Insel im Embiez-Archipel. Es befindet sich vor der Küste des Hafens von Le Brusc in der Gemeinde Six-Fours-les-Plages im Departement Var in der Region Provence-Alpes-Cote d’Azur im Südwesten Frankreichs. Die Küste der Insel ist felsig mit vielen kleinen Buchten. Die Insel ist nur auf dem Seeweg zu erreichen. Es herrscht ganzjähriger Fährbetrieb ab Le Brusc (Fahrzeit ca. 12 Minuten). Eine besondere Sehenswürdigkeit ist das Aquarium des Instituts Oceanographique Paul Ricard.

Les Baux-de-Provence (Baux entstammt dem provenzalischen Wort Baou, was so viel wie „schroffe Felsen“ bedeutet) liegt am Südhang der Alpilles in der historischen Region Provence nordöstlich von Arles auf einem ca. 220 Meter hohen Plateau. Der Ort wird von einer Burgruine beherrscht und ist als eines der schönsten Dörfer Frankreichs (les plus beaux villages de France) klassifiziert.

Arles ist eine Stadt am Ufer der Rhone in der südfranzösischen Region Provence. Südlich schließt sich die Camargue an. Arles gehört zu den sehenswertesten Städten der Provence und besitzt zahlreiche Überreste aus der römischen Antike sowie nennenswerte Zeugnisse des Mittelalters. Viele dieser antiken und romanischen Denkmäler stehen auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Zudem ist Arles der Startpunkt der Via Tolosana, eines französischen Abschnitts auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.

Monaco ist ein winziger unabhängiger Stadtstaat an der französischen Mittelmeerküste, der für seine luxuriösen Casinos, Jachthäfen und den prestigeträchtigen Großen Preis von Monaco in der Formel 1 bekannt ist, der einmal jährlich in den Straßen des Fürstentums stattfindet. Im größten Stadtteil Monte-Carlo befindet sich eine elegante Spielbank aus der Belle Epoque sowie zahlreiche Luxushotels und Nobelrestaurants. Daher schmolzen unsere Francs hier schneller davon als ein Spaghetti-Eis bei Gluthitze. Umgerechnet einen Fünfmarkschein musste für eine Cola Dose geopfert werden und dies an einem ganz gewöhnlichen Kiosk. Insofern blieben leider keine Coupons für das Spielcasino.

En petite épicerie de quartier – Im Tante Emma Laden

Mit einer Handvoll französischer Francs stand ich in einem kleinen Tante Emma Laden. Mir gegenüber die bildhübsche Verkäuferin, welche mich in einem unverständlichen südfranzösischen Dialekt nach meinen Wünschen fragte. Rätselnd überlegte ich mir einen wohlklingenden Satz, welcher mir naturellement nicht von den Lippen kam. Und „Voulez vous coucher avec moi, ce soir“ stand nicht zur Debatte in Ermangelung einer Juniorsuite auf der île des Embiez. Obgleich die bildhübsche Verkäuferin einem Date vielleicht gar nicht abgeneigt schien. Sei es drum, denn eigentlich war mein Gedanke weniger fleischlichen Gelüsten als vielmehr dem Durst und Hunger gewidmet. Aber wie lautet denn das Französische für ein belegtes Brötchen und einer Apfelsaftschorle? Ich gebe es unumwunden zu, dass mein französisch hier kaum aussagekräftig war. Auch hätte mich ein philosophischer Beitrag zu Le petit prince meinem Ziel nicht wirklich näher geführt. Also deutete ich in meiner Verzweiflung in händischer Form auf die gewünschten Produkte der Kühltheke mit einem einfachen … „ ca, s’il vous plaît“! Und die bildhübsche Verkäuferin verstand meine Zeichensprache, kassierte und entließ mich mit einem amüsanten Lächeln.

La Plage - Am Strand

Es war einer dieser grandiosen Sonnenuntergänge auf der île des Embiez. Kurz vor Einbruch der Dämmerung - Le cheval ermahnte uns, dass die nächtliche Ausgangssperre ( 22:00 Uhr ) bereits eingeläutet war – hatten wir eine spontane Idee. Der feine Sandstrand lud uns geradezu ein in Kindergartenmanier das Fang-mich-Spiel oder auch „Fangeles“ genannt zu inszenieren. Einer nach dem anderen wurde so abgeklatscht bis zuletzt Roland (Kandlbinder) an die Reihe kam. Mutig und nicht minder zielstrebig nahm er Herrn Mehrer ins Visier und tippte ihn mit „ Du musst“ an. Das war gleichsam der Appell an alle anderen, sich zu verdünnisieren. Nur unser Lehrer blickte versteinert wie eine fest verwurzelte Eiche drein. Völlig konsterniert konnte er sich keinen Reim darauf machen und wusste nicht wie ihm geschah. Ich bin der festen Überzeugung, dass er heute noch auf dem gleichen Standort kleben würde, hätte nicht jemand ein Einsehen mit ihm gehabt und ihm bedeutet, dass das Spiel nun beendet sei.

Die Party mit den kleinen Französinnen – Le parti avec les petites femmes Francais

Endlich war es soweit, und der Schüleraustausch konnte starten. Es sollte eine rauschende Party werden, welche nach einer Begrüßungszeremonie durch die beiden Heim- und Gastlehrer zunächst ins Stocken geriet. Das lag zum einen an der musikalischen Untermalung, denn auch die kleinen Französinnen konnten sich für die Chansons wenig begeistern; zum anderen an der schier unüberwindbaren Sprachbarriere. Wir wussten zwar, dass im Französischen zwischen drei Akzenten, dem accent aigu, dem accent grave sowie dem accent circonflexe differenziert wird. Dies lieferte allerdings keinen Stoff zum gedanklichen Austausch. Auch unsere Einlassungen zu le petit prince fanden wenig Gegenliebe. Die literarische Umsetzung des moralischen Denkens und der Welterkenntnis des Autors Antoine de Saint-Exupery mit seiner Kritik am Werteverfall der Gesellschaft bereiteten keine Begeisterungsstürme. Die kleinen Französinnen hatten ganz anderes im Sinn. Sie wollten tanzen, aber bei Milord von Edith Piaf füllte sich die Tanzfläche nicht. Gut, dass ich klassische Musikaufnahmen originären Rocks von Deep Purple, Iron Butterfly, The Rolling Stones und dergleichen schließlich durch den Äther heulen ließ. Der Bann war gebrochen und die Party gerettet. Nur einer zeigte sich sichtlich brüskiert und verstand die Welt nicht mehr. Wer es wohl war? Na klar: unser Lehrer, le instituteur - professeur Herr Mehrer.

Orkanböen am frühen Morgen – Rafales de l’ouragan tôt le matin

Zunächst polterte es - es war aber nicht der Poltergeist. Dann erschütterte die Erde - es war kein natürliches Erdbeben. Und schließlich dröhnte es laut über die Insel - es war aber kein Donnergrollen. Nein, es war le professeur Mehrer, welcher sich offensichtlich in seinem Appartement über Nacht verbarrikadiert und eingeschlossen hatte. Seltsamerweise steckte der Zimmerschlüssel jedoch noch außen an der Tür. Wir alle rätselten wie dieses Unterfangen unserem Lehrer möglich war. Hatte er Zauberkräfte oder war Magie mit im Spiel? Dass Herr Mehrer ein Illusionist ist, schlossen wir kategorisch aus. Also mussten hier wohl heimliche und unsichtbare Wesen agiert haben. Und bald stellte sich heraus, dass findige Burschen auf leisen Sohlen des Nachts geräuschlos seinen Schlüssel entwendeten, das Schloss verriegelten und dem Tagesanbruch sehnsüchtig entgegenfieberten. Die Schadenfreude unter uns war grenzenlos, bei Herrn Mehrer herrschte Empörung vor. Eigentlich wären Dankesworte auf der Tagesordnung angebracht gewesen, hatten wir ihm doch aus diesem Missgeschick befreit. Aber Undank ist der Welt Lohn. Schließlich waren die Tage gezählt und wir mussten wieder Abschied von unserer geliebten île des Embiez nehmen.

 

Une histoire à propos de monsieur Mehrer – notre professeur de français – ou la semaine des atrocités

von Hada

Misstrauensvotum - Le premier jour des atrocités - La troisième jour des atrocités - La cinquième jour des atrocités - le couronnement ou la finale

 

Misstrauensvotum

Der 27. April 1972 gilt bis auf den heutigen Tag als einer der spannendsten Momente des Deutschen Bundestages. Damals nämlich scheiterte das konstruktive Misstrauensvotum der Opposition gegen den amtierenden Bundeskanzler Willy Brandt in einer hitzigen Debatte. Zugleich bedeutete dieses Ansinnen des Oppositionsführers Rainer Barzel ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Da weder reguläre Wahlen noch Neuwahlen anstanden, griff die Opposition zu diesem Mittel des Misstrauensvotum, um eine Regierung zu stürzen. Lautstarker Protest machte sich breit und Tausende demonstrierten auf den Straßen und bekundeten ihre Sympathie für den Kanzler. Am Tag der Abstimmung wurde auch durch uns Schüler zu dieser Thematik heftig diskutiert.

Diese Stimmungslage hatte unser damaliger Direktor Werner Diefenbach erkannt und ein Zeichen gesetzt. Kurzentschlossen funktionierte er das Untergeschoss des Pavillon – eigentlich Turnhalle – in ein Public Viewing um, damit Interessierte diese Politdebatte live verfolgen konnten. Wir als Unterprimaner und potentielle Jungwähler waren quasi per se schon dafür prädestiniert. Ganz anders sah das allerdings unser Französischlehrer Helmut Mehrer. Er, dessen Französisch perfekter artikuliert war, als es jemals ein gebürtiger Franzose hätte aussprechen können. Er, dessen dictée uns immer wieder Rätsel aufgab – dieser Helmut Mehrer forderte uns buchstäblich auf, seinem Unterricht unverzüglich beizuwohnen. Alle unsere Appelle versandeten im Nirvana. Jedoch da gab es noch unseren geschichtsträchtigen Direktor. Ob dieses einmaligen politischen Ereignisses überließ er es jedem Einzelnen, eine Gewissensentscheidung zu treffen – pro Unterricht oder pro Fernsehliveübertragung. Natürlich war der Ausgang klar und Le professeur entfernte sich beleidigt und schüttelte nur den Kopf. Der Unterricht fand übrigens vor fast leerer Klasse dennoch statt. Dieses Verhalten musste indessen ein Nachspiel haben. So erlebte Le professeur die wohl grausamste Woche seiner gesamten Beamtenlaufbahn.

Le premier jour des atrocités

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatten wir nach der Großen Pause Französisch. Also genug Zeit zur ersten kreativen Umsetzung. Da sich le professeur zuweilen sehr gerne auf dem Lehrertisch platzierte, nutzten wir dieses Inventar für eine imposante Kulisse. Tisch um Tisch stapelten wir nacheinander in Form des Tour Eiffel Paris ( Eiffelturm ) bis die Spitze der Zimmerdecke erreicht wurde. Und ganz oben zierte als Krönung der Lehrerstuhl. Leider gibt es hierzu keine Bilddokumente. Auch die verdutzte Mimik unseres Herrn Mehrer ist weder analog noch digital vorhanden.

La troisième jour des atrocités

Rockkonzerte waren damals für uns das Non Plus Ultra. Doch Konzertkarten für den Backstage Bereich ob unserer finanziellen Defizite nicht erschwinglich. Denn Backstage steht für Bühne, den für Zuschauer nicht zugänglichen Bereich. Aber wir erfanden den Begriff Backstage vollkommen neu. Vor Beginn des Unterrichts saßen wir nämlich rückwärtsgewandt in den diversen Stuhlreihen. Entgegen unserer Erwartungshaltung begeisterte unseren Französischlehrer unsere Rückenpartie keineswegs. Getreu seiner Devise forderte er eine korrekte Sitzhaltung ein. Da nicht alle diesem Dekret nachkamen, stand er regungslos und versteinert da. Seinen geliebten Unterricht setzte er aber auch Backstage unvermindert fort.

La cinquième jour des atrocités - le couronnement ou la finale

Als Schüler der Oberstufe hatten wir das Privileg, die Schulstunden im Turmzimmer – direkt neben dem Kunstraum – zu genießen. Das bedeutete gleichsam ein Lernen wie im Exil. Denn weder andere Eleven noch das Lehrerkollegium störten unmittelbar unsere Kreise. Dies sollte aus einem besonderen Grund noch wichtig werden. Es folgte nämlich der letzte Akt der Grausamkeiten. Kurz vor Beginn des Unterrichts verbarrikadierten wir die Tür mit einem Schreibtisch, sodass die Türklinke sozusagen außer Betrieb war. Denn durch diesen magischen Zauber entstand eine Blockade und die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Schon keuchte mit Riesenschritten le professeur die Treppe hinauf. Doch die Türklinke wollte und wollte sich nicht bewegen. Alles Rütteln war vergebens, der Kraftakt umsonst. Selbst die schrillen Rufe und tobendes Brüllen halfen nichts. Die Tür blieb verschlossen. Absolute Lautlosigkeit dominierte im Innenraum. Schließlich erkannte le professeur die Sinnlosigkeit und zog von dannen. Dies war das Zeichen für unseren Klassensprecher, Oskar Weizenegger, um sich nach dem Verbleib des Französischlehrers zu informieren. Dieser erstürmte in Begleitung des Direktors bereits die letzten Treppenstufen und polterte drauf los. Herr Diefenbach, welcher die Situation sofort erfasste, sprach ruhig und mit einem Schmunzeln: „Nun, Herr Mehrer, die Klasse ist ja vollzählig. Sie können doch jetzt mit dem Unterricht beginnen,“ sprachs und entfernte sich geräuschlos aus dem Raum. Die Feuerzangenbowle lässt grüßen.